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3. Stress nach Art des Stressors

3. Stress nach Art des Stressors

Autor: Ulrich Brennecke
Review (2024): Dipl.-Psych. Waldemar Zdero

Die Art des Stressors beeinflusst den Ort der neurophysiologischen Veränderungen im Gehirn.

Stress bewirkt Veränderungen des dopaminergen Systems. Unterschiedliche Stressoren führen dabei zu unterschiedlichen Veränderungen des dopaminergen Systems. Die Auswirkungen der verschiedenen Stressarten auf das Gehirn und insbesondere das dopaminerge System finden sich unter Dopamin und Stress im Abschnitt Dopamin im Kapitel Neurologische Aspekte.

Die verschiedenen Stressarten werden in der Laboranwendung zur Erforschung von Stress bei Nagetieren Stressprotokolle genannt. Dazu gehören unter anderem der chronische Immobilisationsstress, der chronische soziale Stress, der chronische (unvorhersehbare) milde Stress.

3.1. Stressprotokolle

Die meisten Studien zu Stress untersuchen Stress an Nagetieren unter Laborbedingungen. Dabei werden unterschiedliche Stressarten durch verschiedene Behandlungsweisen verursacht.
Da die Stressprotokolle nicht genormt sind, zeigen die nachfolgenden Beispiele lediglich mögliche Anwendungsformen.

3.1.1. Chronischer Immobilisationsstress (Chronic restraint stress, CRS)

Nach dem Protokoll für chronischen Immobilisationsstress werden die Tiere 10 bis 28 Tage lang 2 bis 6 Stunden pro Tag in einer (belüfteten und transparenten) Fixierungsvorrichtung gehalten. Chronischer Immobilisationsstress löst Nagetiere Depressionssymptome aus, die durch Verhaltenstests wie den Saccharose-Präferenztest, den Forced-Swim-Test und den Tail-Suspension-Test gemessen werden.1

Mäuse werden für 2 Stunden in belüftete Plexiglas-Fixierungsvorrichtungen (11,5 cm (Länge) × 3 cm (Durchmesser) mit Luftlöchern von 8–0,5 cm Durchmesser) gesetzt.2

Mäuse werden mit biegsamem Drahtgeflecht umwickelt, sodass Druckstellen am Körper und Überhitzung vermieden werden.3

3.1.2. Erzwungenes Schwimmen

Mäuse müssen 2 Minuten lang in Leitungswasser (10 cm tief) bei Raumtemperatur (22 °C) in einem offenen, zylindrischen Plexiglasbehälter [30,5 cm (Höhe) × 30,5 cm (Durchmesser)] schwimmen. Das Wasser wird zwischen jedem Tier gewechselt.2
Mäuse müssen 10 min in 40 cm tiefem, 23 Grad warmem Wasser schwimmen.3
Manche Studien verwenden erzwungenes Schwimmen in kaltem Wasser4 oder erzwingen Schwimmen in engen Zylindern5.

3.1.3. Kältestress

Mäuse werden in einzelne Polycarbonatkäfige getrennt und für 2 Stunden in eine belüftete Kühlkammer (4 °C) gestellt. Die Käfige werden täglich gereinigt und die leeren Käfige blieben über Nacht in der Kühlkammer.2
Ratten wurden zwischen 8 und 9 Uhr morgens in ihren Heimkäfigen in die Kühlkammer gebracht und 3 Stunden lang bei +4 °C gehalten.6

3.1.3. Isolationsstress

Kurzzeitige Isolation: 3 bis 4 Monate alte Mäuse wurden für 2 Stunden in einzelne Polycarbonatkäfige gesetzt, wobei sie im Tierhaltungsraum blieben.2
Chronische Isolation: Isolierte Haltung von Ratten ab dem Alter von 3 Monaten in Plexiglaskäfigen.7

3.1.4. Handling

Die Mäuse wurden kurz hochgehoben und können sich auf der Hand frei bewegen (ca. 30 Sekunden).2

3.1.5. Lärmstress

Weißes Rauschen, 1 Stunde bei 100 dB mit abgestuftem Ein- und Ausblenden über einen Zeitraum von 2 bis 3 Minuten, um Schreckreaktionen zu vermeiden.3

3.1.6. Chronischer sozialer Verteidigungsstress (Chronic social defeat stress, CSDS)

Das Protokoll für chronischen sozialen Stress sieht vor, dass ein einzelnes Männchen (der Eindringling, an dem CSDS getestet wird) für 5 bis 10 Minuten in den Heimkäfig eines größeren Männchens (Aggressor, Bewohner) gebracht wird. Dort wird der Eindringling von dem ansässigen Tier besiegt. Nach dieser unmittelbaren physischen Interaktion werden Bewohner und Eindringling 24 Stunden lang in sensorischem Kontakt gehalten. An 10 aufeinanderfolgenden Tagen werden die Eindringlinge dem Heimkäfig eines jeweils neuen Bewohners ausgesetzt. Nach dieser CSDS-Exposition wird die Zeit der sozialen Interaktion gemessen.1
Es zeigen sich zwei Phänotypen:

  • anfällige Mäuse, die depressive Verhaltensweisen entwickeln, die sich in verringerter sozialer Interaktion zeigen
  • widerstandsfähige Mäuse, die keine depressiven Verhaltensweisen entwickeln

3.1.7. Chronischer (unvorhersehbarer) milder Stress (Chronic (unpredictable) mild stress, CUMS, CMS)

Das Protokoll für chronischen (unvorhersehbaren) milden Stress sieht vor, dass die Nagetiere über 2 bis 12 Wochen in zufälliger Reihenfolge einer Reihe von (lediglich vergleichsweise) milden unvorhersehbaren Stressfaktoren ausgesetzt werden, wie z.B.:8

  • Nächtliche Beleuchtung
  • Kippen des Käfigs
  • feuchte Einstreu
  • unangenehme Geräusche
  • Käfigwechsel
  • Futter-/Wasserentzug
  • etc.

Dieses Stressprotokoll löst anhaltende depressive Verhaltensweisen aus und scheint die bei depressiven Patienten beobachtete stressbedingte Depression zu imitieren.
In einer weiteren Studie an jugendlichen Ratten löste er ADHS- und Angstsymptome im Erwachsenenalter aus.9

3.2. Homotypischer vs. heterotypischer Stress

Heterotypischer Stress setzt sich aus mehreren Stresserfahrungen verschiedener Stressorenarten zusammen. Homotypischer Stress besteht dagegen aus wiederholten Stresserfahrungen einer Stressorenart.
Eine Aneinanderreihung verschiedener Stresserfahrungen bewirkt bei heterotyoischem Stress und homotypischem Stress unterschiedliche Anpassungsreaktionen.
Bei homotypischem Stress tritt weitaus häufiger eine gesunde Anpassungsreaktion auf, bei der das Stresssystem durch immer schwächere Stressreaktionen auf die sich wiederholenden Stressoren reagiert. Bei heterotypischem Stress dagegen unterbleibt häufiger die Adaption der Stressreaktion. Diese bleibt auch bei wiederholten Stresserfahrungen gleichermaßen ausgeprägt (Maladaption).10

3.3. Stressansteckung / soziale Übertragung von Stress

Stress kann alleine durch Beobachtung der Stresserfahrung eines anderen entstehen / übertragen werden.1112
Kinder zeigten Stresssymptome, wenn sie akuten Stress eines Elternteils wahrnahmen.1314
Je stärker eine Identifikation zwischen Menschen ist, je mehr sie sich einer gemeinsamen Gruppe angehörig fühlen, desto mehr führen Stresserfahrungen eines Einzelnen bei anderen der Gruppe, die diese miterleben, ebenfalls zu einem Anstieg des Cortisolspiegels.1516 Eine Machtposition konnte die Stressansteckung erhöhen, möglicherweise aufgrund eines damit verbundenen Verantwortungsempfindens.17 Hatte der Beobachter die Stresserfahrung zuvor selbst durchlebt, war die Übertragung der Stresssempfindung bei der Beobachtung geringer.17
Eine andere Studie fand ebenfalls eine soziale Übertragung / Ansteckung von Stress, nicht jedoch eine Abhängigkeit vom Identifikationsempfinden.18
Empathischer Stress, also sozial übertragener Stress, scheint nicht mit einer Mimikry der Gesichtszüge zu korrelieren.19

Stressübertragung findet sich auch bei Tieren.20
Ebenso lässt sich Schmerz sozial übertragen, auch zwischen Tieren.21 Dieser Mechanismus ist verwandt mit der sozialen Übertragbarkeit des Placeboeffekts.22

3.4. Stressarten und ADHS-Subtypen

Unterschiedliche Stressoren korrelierten mit verschiedenen ADHS-Subtypen:

Vernachlässigung der Aufsichtspflicht, die das Kind der Gefahr physischer oder psychischer Schäden aussetzte, korrelierte mit ADHS-I (unaufmerksamer Typ, OR 1,6) ebenso wie mit ADHS-HI/ADHS-C (hyperaktiver Typ, OR 1,5).
Physische Vernachlässigung korrelierte dagegen nur mit ADHS-I signifikant (OR 2,1), nicht aber mit Hyperaktivität.23
ADHS-I korrelierte danach mit:

  • sexueller körperlicher Missbrauch (OR 2,6, + 160 %)
  • körperlicher Vernachlässigung (OR 2,1, + 110 %)
  • körperlicher Missbrauch (OR 1,6, + 60 %)
  • Vernachlässigung der Aufsichtspflicht (OR 1,6, + 60 %)
    ADHS-HI/ADHS-C korrelierte mit:
  • Vernachlässigung (OR 1,5, + 50 %)
  • körperlicher Missbrauch (OR 1,3, + 30 %)
  • nicht signifikant dagegen:
    • körperliche Vernachlässigung
    • sexueller Kontaktmissbrauch

3.5. Messprotokolle

3.5.1. Schwanzaufhängungstest (TST)

Der Schwanz der Maus wird an einer glatten Plexiglasplatte befestigt, und die Maus wird an das Dach einer Schalldämpfungsbox gehängt. Die Bewegungen der Tiere wird einige Minuten lang mit einer Kamera aufgezeichnet.24


  1. Baik (2020): Stress and the dopaminergic reward system. Exp Mol Med. 2020 Dec;52(12):1879-1890. doi: 10.1038/s12276-020-00532-4. PMID: 33257725; PMCID: PMC8080624. REVIEW

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  8. Baik (2020): Stress and the dopaminergic reward system. Exp Mol Med. 2020 Dec;52(12):1879-1890. doi: 10.1038/s12276-020-00532-4.PMID: 33257725; PMCID: PMC8080624. REVIEW

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