Die Anzahl der ADHS-Diagnosen ist in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Das sagt indes nichts darüber aus, ob ADHS unter- oder überdiagnostiziert ist.
ADHS ist in den letzten Jahren deutlich bekannter geworden. Dass ADHS auch Erwachsene betrifft, zeigte sich in der Forschung in etwa zur Jahrtausendwende. Bis diese Erkenntnis in der klinischen Praxis, also bei Ärzten und Psychologen angekommen war, dauerte es naturgemäß noch etliche Jahre.
Seit 2022 haben die sozialen Medien (Instagram, TikTok, Facebook) das Thema auf unterhaltsame Weise in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht.
1. Unterdiagnostik von ADHS¶
Unser Eindruck ist, dass viele erwachsene Betroffene erst durch soziale Medien erkennen, was sie schon ihr ganzes Leben lang belastet hat und dass diese Belastung nicht zwingend einfach so hingenommen werden muss. Dies führt zu einer steigenden Nachfrage nach Diagnostik.
Im deutschsprachigen Raum sind viele Ärzte und Psychologen mit ADHS bei Erwachsenen noch nicht in dem Maße vertraut, wie es für eine Störung angemessen wäre, die 8 bis 12 % aller Kinder und 5 bis 8 % aller Erwachsenen betrifft. Wir sehen allerdings, dass immer mehr Ärzte und Psychologen die Problematik erkennen und dass es inzwischen eine wachsende Anzahl an Ärzten und Psychologen jenseits der renommierten Spezialisten gibt, die über ADHS hervorragend informiert sind und auch schwierige Problemstellungen sehr gut lösen.
Eine Metaanalyse von 135 Studien fand keine Hinweise, dass sich die Prävalenz von ADHS in den letzten drei Jahrzehnten verändert hätte. Unterschiede in der Prävalenz ergeben sich vielmehr aus unterschiedlichen Studienmethoden.
Unterschiede ergeben sich naturgemäß, wenn man anstatt der Feldprävalenz (wie häufig kommt ADHS in der Bevölkerung vor, wenn eine repräsentative Gruppe von Spezialisten untersucht wird) die diagnostische Prävalenz betrachtet (wie häufig wurde ADHS diagnostiziert). Die diagnostische Prävalenz hängt erstens von dem Bewusstsein der Betroffenen ab (das sie veranlasst, eine Diagnostik nachzufragen) und zweitens ist sie abhängig von der Kenntnis der Ärzteschaft (der Fähigkeit, ADHS zu erkennen). Beides ist in den letzten Jahren deutlich gewachsen, was zu einem Anstieg von ADHS-Diagnosen führt.
Weiter geben die einschlägigen Daten keine Hinweise darauf, dass ADHS zu häufig oder zu selten diagnostiziert würde.
Eine japanische Bevölkerungsstudie an 2.945 Teilnehmern fand 91 ADHS-Betroffene, von denen 76 bisher undiagnostiziert waren. Die Studie beschreibt die erheblichen Belastungen der Betroffenen.
Kinder mit einem subklinischen ADHS (ADHS, das zu schwer ist für eine Diagnose), haben im gleichen Maße wie Kinder mit einem diagnostizierten ADHS Beeinträchtigungen der sozialen Funktion und Komorbiditäten sowie einen erhöhten Körperfettanteil. Dies deutet eher auf zu hohe als zu niedrige Schwellwerte für eine ADHS-Diagnose hin.
2. Unterbehandlung von ADHS¶
Rund 3/4 aller Kinder mit ADHS erhalten keine Behandlung.
Zuweilen wird erwähnt, dass der Verbrauch von Methylphenidat (dem wichtigsten ADHS-Medikament) in Tonnen gemessen wird. Dies ist richtig.
Bei adäquater Kenntnis und Nutzung der Grundrechenarten ist die Menge des MPH-Verbrauchs ein klarer Beweis für eine Unterbehandlung.
In Deutschland wurden im Jahr 2013 rund 1,8 Tonnen Methylphenidat verschrieben und verbraucht.
1 Tonne sind 1000 kg sind 1000 x 1000 = 1 Million Gramm.
Eine Tagesdosis beträgt im Schnitt 40 mg.
Der Jahresbedarf eines Betroffenen beträgt mithin 365 x 40 = 14.600 Milligramm = 14,6 Gramm.
1 Million / 14,6 ergibt 68.493 Jahresdosen. 1 Tonne MPH reicht also für 68.493 Betroffene, um diese ein Jahr lang medizinisch zu versorgen.
1,8 Tonnen / Jahr reichen damit für rund 123.000 Betroffene / Jahr.
Im Jahr 2019 wurden insgesamt rund 56 Millionen Tagesdosen Methylphenidat von deutschen Ärzten verordnet.
Dies entspricht rund 153.000 Jahresdosen, was einem Anstieg von rund 25 % gegenüber 2013 entspricht.
Von 82 Millionen Einwohnern in Deutschland sind 46 Millionen Erwachsene im berufstätigen Alter.
Wenn von diesen 6 % betroffen sind, ergibt dies 4,92 Millionen betroffene Erwachsene.
Die genannten 1,8 Tonnen reichen damit für 2,51 % der betroffenen erwerbstätigen Erwachsenen.
Dann hat aber noch kein Kind und kein Erwachsener außerhalb des berufstätigen Alters MPH erhalten.
Dies zeigt, dass eine sehr starke Unterbehandlung vorliegt.