Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
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2.5.1. Angststörungen (Jahresprävalenz: 22,9 % (Frauen), 9,7 % (Männer))
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2.5.2. Ausscheidungsstörungen (Einnässen, Einkoten) (Kinder: 18,5 %)
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2.5.3. Affektive Störungen (10 bis 17 %)
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2.5.4. Umschriebene Entwicklungsstörungen (Teilleistungsstörungen) nach ICD-10 (ca. 10 bis 15 % (?))
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2.5.5. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, PTSD) (5 % (Männer), 10 % (Frauen))
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2.5.6. Tic-Störungen, Tourette-Syndrom (1 % bis 15 %)
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2.5.7. Internetsucht (3,9 %)
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2.5.8. Störung des Sozialverhaltens / Conduct Disorder (1,5 % bis 5 %)
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2.5.9. Emotional instabile Persönlichkeitstörung / Borderline-Persönlichkeitstörung (1 - 5 % (Frauen), 1 % (Männer))
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2.5.10. Zwangsstörung (1 bis 3 %)
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2.5.11. Antisoziale Persönlichkeitsstörung (0,2 - 3 %)
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2.5.12. Narzissmus (0,5 bis 2,5 %)
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2.5.13. Schizophrene Störung (1 %)
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2.5.14. Psychosen (1 %)
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2.5.15. Autismusspektrumstörung (ASS) (0,9 %)
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2.5.16. Fragiles X – Syndrom (0,22 % (Männer) bis 0,66 % (Frauen))
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2.5.17. Pervasive developmental disorders (PDD) (0,06 %)
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2.5.18. Wilson Disease (0,0033 %)
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2.5.19. Monoamin-Neurotransmitterstörungen
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2.5.20. Vorwiegend milieubedingte Verhaltensauffälligkeiten
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2.5.21. Oppositionelles Trotzverhalten (ODD)
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2.5.22. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)
2.5.1. Angststörungen (Jahresprävalenz: 22,9 % (Frauen), 9,7 % (Männer))¶
Prävalenz: 22,9 % aller Frauen, 9,7 % aller Männer innerhalb eines Jahres.
Prävalenz bei Mädchen unter 18 Jahren: 7,85 %.
Angststörungen bestehen komorbid bei 25 % der ADHS-Betroffenen, 16,7 % der ADHS-betroffenen Kinder und 27,2 % der ADHS-Betroffenen Erwachsenen. Andere Quellen nennen 15 % bis 35 % bzw. 35,6 % bei Erwachsenen in England 2007.
Leistungsängste sind besonders häufig.
Gemeinsame Symptome von Angststörungen und ADHS:
- Innere Unruhe
- Konzentrationsprobleme
- Aufmerksamkeit verringert
- Stimmungsschwankungen
- Schlafprobleme
ADHS-Symptome, die für Angststörungen untypisch sind:
- hoher Redefluss (Logorrhö, Polyphrasie)
- Gedankenjagen, Gedankenkreisen
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Impulsivität (untypisch für ADHS-I)
- Beeinträchtigte Exekutivfunktion
Symptome von Angststörungen, die für ADHS untypisch sind:
Angstzustände bei ADHS können teilweise die Impulsivität und die Reaktionshemmungsdefizite verringern, die Arbeitsgedächtnisdefizite verschlimmern und scheinen sich von reinen Angstzuständen qualitativ zu unterscheiden. Komorbide Angst bei ADHS hat offenbar abweichende Ausdrucksformen:
- erhöht scheinen
- negativer Affekt
- Stimmungsstörungen
- störendes Sozialverhalten
- Aufmerksamkeitsprobleme
- Schulphobie
- verringert scheinen
- ängstliches / phobisches Verhalten
- soziale Kompetenz
2.5.1.1. Panikstörung (3,2 bis 3,6 %)¶
Prävalenz Panikstörung: 3,2 % bis 3,6 %
2.5.1.2. Generalisierte Angststörung (1,9 bis 31,1 %)¶
Prävalenz generalisierte Angststörung: 1,9 % bis 31,1 %
2.5.2. Ausscheidungsstörungen (Einnässen, Einkoten) (Kinder: 18,5 %)¶
18,5 % der Kinder mit ADHS sind betroffen.
2.5.3. Affektive Störungen (10 bis 17 %)¶
Prävalenz:
Lebenszeit: 10 % bis 17 %
unter 18 Jahren: Mädchen 2,54 %, Jungen 1,10 %.
Affektive Störungen werden bei 27,9 % der ADHS-betroffenen Kinder und bei 57,9 % der ADHS-betroffenen Erwachsenen beschrieben. Weiter wird eine Prävalenz von 37,1 % für Stimmungsinstabilität und 29,9 % für Depression bei Erwachsenen in England 2007 genannt.
2.5.3.1. Depression (10 % (Männer) 20 % (Frauen))¶
Eine Depression ist abzugrenzen von einer bloßer Dysphorie bei Inaktivität, die ein typisches Symptom von ADHS ist und keine Depression darstellt. Eine Behandlung mit Antidepressiva wäre hier fehlerhaft.
Ausführlich hierzu unter ⇒ Depression und Dysphorie bei ADHS in diesem Kapitel.
12 % bis 50 % der Kinder mit ADHS leiden zugleich an einer Depression, was 5 Mal häufiger ist als bei Kindern ohne ADHS. Eine Studie an jungen erwachsenen Depressions-Betroffenen berichtet eine ADHS-Lebenszeitprävalenz von 25,9 %, was ebenfalls rund das fünffache ist.
Die Lebenszeitprävalenz einer Major Depression beträgt 15 %; Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer, also Frauen 20 %, Männer 10 %.
Bei Kindern mit ADHS tritt eine emotionale Dysregulation vor einer komorbid eintretenden Depression auf. Dies verwundert nicht, da emotionale Dysregulation ein originäres ADHS-Symptom ist, während Depression als komorbide Störung hinzutreten kann. Gleichwohl scheint das Maß der emotionalen Dysregulation bei Kindern mit ADHS die Wahrscheinlichkeit einer späteren Depression zu moderieren.
Gemeinsame Symptome von Depression und ADHS:
- Innere Unruhe (bei atypischer Depression typisch, weniger bei melancholischer Depression)
- Konzentrationsprobleme
- Aufmerksamkeitsprobleme
- Gedächtnisprobleme
- Schlafprobleme
- Tagesmüdigkeit (bei atypischer Depression typisch, bei melancholischer Depression untypisch, bei ADHS möglich)
- negatives Selbstbild
ADHS-Symptome, die für Depression untypisch sind:
- schnelle Stimmungsschwankungen
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Dysphorie nur bei Inaktivität
- hoher Redefluss (Logorrhö, Polyphrasie)
- Gedankenjagen, Gedankenkreisen
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Impulsivität (untypisch für ADHS-I, untypisch für melancholische Depression)
- Probleme mit der kognitiven Kontrolle
Symptome von Depression, die für ADHS untypisch sind:
- dauerhafte depressive Stimmung (auch bei Dingen, die eigentlich interessieren)
- Stimmungstief morgens (melancholische Depression)
- Stimmungstief abends (atypische Depression)
- Gewichtsverlust (bei ADHS allenfalls als Nebenwirkung von Stimulanzien)
- Verringertes Interesse an Aktivitäten (bei ADHS eher Rückzug aufgrund von erhöhter Sensiblität oder Sozialphobie)
- Suizidale Gedanken
- Geringes Belohnungsstreben
Bei ADHS-Betroffenen tritt eine Depression typischerweise Jahre nach dem Auftreten der ADHS-Symptome hinzu. In diesem Fall muss neben der bestehenden Depression unbedingt auch das zu Grunde liegende ADHS behandelt werden, das häufig die Ursache der Depression darstellt. Andernfalls würde mit der Depression lediglich ein Folgesymptom von ADHS behandelt.
Rund 34 % aller behandlungsresistenten Depressionen liegt ein bis dahin unerkanntes ADHS zugrunde.
2.5.3.2. Bipolare Störung (Jahresprävalenz: 3,1 % (Frauen), 2,8 % (Männer))¶
Prävalenz: 3,1 % aller Frauen, 2,8 % aller Männer innerhalb eines Jahres
Bipolare Störung ist insbesondere durch einen Wechsel zwischen depressiver und manischer Symptomatik gekennzeichnet. Die Wechsel können in unterschiedlicher Geschwindigkeit erfolgen. Nicht immer erfolgt ein Wechsel in ein Vollbild der manischen Episoden.
ADHS tritt bei Bipolar-Betroffenen überdurchschnittlich häufig auf, die Komorbidität mit ADHS ist allerdings wohl schwächer als in Bezug auf andere psychische Störungen. Die ADHS-Prävalenz bei Bipolar-Betroffenen unterscheidet sich nach dem Alter, in dem die bipolare Störung erstmals auftritt:
- Kindesalter: 80 bis 95 % haben komorbides ADHS
- Jugend: ca. 50 % haben komorbides ADHS
- Erwachsenenalter: ca. 25 % haben komorbides ADHS
In einer Reaktionstest-Untersuchung zeigten ADHS- wie Bipolar-Betroffene eine signifikant erhöhte Variabilität seltener langsamer Reaktionen als Kontrollen, während Bipolar-Betroffene im Vergleich zu ADHS-Betroffenen und Kontrollen eine signifikant erhöhte Geschwindigkeit und Variabilität typischer Reaktionen im Flanker-Task zeigten.
2.5.3.2.1. Depressive Episode der bipolaren Störung¶
Die gemeinsamen und unterschiedlichen Symptome von depressiver Episode der bipolaren Störung und ADHS entsprechen denen von Depression und ADHS.
Sieh hierzu oben unter Depression sowie unter ⇒ Depression und Dysphorie bei ADHS im Abschnitt⇒ Vertiefte Darstellung einzelner ADHS Symptome im Kapitel*⇒ Symptome.*
2.5.3.2.2. Manische Episode der bipolaren Störung¶
Gemeinsame Symptome von manischer Episode der bipolaren Störung und ADHS:
- Konzentrationsprobleme
- Aufmerksamkeitsprobleme
- Gedächtnisprobleme
- Schlafprobleme
- Tagesmüdigkeit (bei atypischer Depression typisch, bei melancholischer Depression untypisch, bei ADHS möglich)
- schnelle Stimmungsschwankungen
- Gedankenjagen, Gedankenkreisen
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Impulsivität (untypisch für ADHS-I)
- Probleme zu entspannen (ADHS-HI, Bipolar in manischer Phase)
- Regulierung der eigenen Erregung.Innere Unruhe, Rastlosigkeit
- Hypersexualität
ADHS-Symptome, die für manische Episoden untypisch sind:
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Dysphorie nur bei Inaktivität
Symptome von Bipolar die für ADHS untypisch sind:
- Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen
Bei ADHS sind Stimmungsschwankungen eher durch Trigger ausgelöst (reaktiv) und vergehen bei Ablenkung schnell wieder, während bipolare manische Phasen eher durchgängiger und langanhaltender sind.
2.5.3.3. Zyklothymia (13 %)¶
Zyklothymia (Cyclothymie) ist ein chronisch bestehender schneller Wechsel von Stimmungen und Antrieb, ohne die Intensität der Symptome einer Bipolaren Störung zu erreichen. Es wechseln sich hypomane und depressive Phasen ab. Zyklothymia hat eine Prävalenz von 13 % in der Allgemeinbevölkerung.
Zyklothymia wurde bei 75 % aller Bipolar-Betroffenen gefunden und tritt bei ADHS und Depression deutlich erhöht auf.
2.5.4. Umschriebene Entwicklungsstörungen (Teilleistungsstörungen) nach ICD-10 (ca. 10 bis 15 % (?))¶
Teilleistungsstörungen sollen (vor allem beim ADHS-I-Subtyp ohne Hyperaktivität) eine häufige Komorbidität sein.
Dyspraxie ist dagegen eine rein motorische Entwicklungsstörung, die eher mit ADHS-HI (ohne Unaufmerksamkeit) verwechselt wird.
2.5.4.1. Dyspraxie (5 bis 6 %)¶
Prävalenz 5 bis 6 %
Dyspraxie wird auch das “Syndrom des tollpatschigen Kindes” oder “Syndrom des ungeschickten Kindes” bezeichnet.
Dyspraxie ist eine Entwicklungsstörung, die das ganze Leben lang anhält.
Dyspraxie tritt sehr häufig komorbid zu ADHS oder ASS auf.
Kinder mit Dyspraxie zeigen keine Abweichungen bei der Intelligenz.
Es gibt verschiedene Formen von Dyspraxie.
2.5.4.1.1. Motorische Dyspraxie / Umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF)¶
Probleme mit:
- motorischer Verlangsamung
- Gleichgewichtsprobleme
- beeinträchtigtes Gangbild
- Schwierigkeiten beim Anziehen im Stehen
- Ungeschicklichkeit bei komplexen Bewegungsabläufen, die Gleichgewicht und Gewandtheit erfordern
- Ball fangen
- hüpfen
- springen
- klettern
- Rad fahren
- schwimmen
- Paartanz
- beeinträchtigte Automatisierung feinmotorischer und grobmotorischer Tätigkeiten
- beeinträchtigte Handschrift
- Schwierigkeiten, den Stift mit dem richtigen Druck zu führen
- Probleme, Grenzen des Blattes einzuhalten.
- schreiben am Computer geht sehr viel besser
- Probleme, Schnürsenkel oder Schleifen zu binden
- Probleme, Knöpfe zu schließen
- Schwierigkeiten beim Essen mit Messer und Gabel
- Probleme, eine Figur sauber auszuschneiden
- häufiges fallen lassen von Dingen
- Probleme beim vorsichtigen Umgang mit Gläsern oder Geschirr
- Schwierigkeiten beim Einschenken in Gläser
- Probleme beim Basteln oder Verpacken von Geschenken
- Schwierigkeit beim Erwerb neuer motorischer Fähigkeiten
- beeinträchtigte Auge-Hand-Koordination
- häufiges Verwechseln von rechts und links
- Probleme mit der Reihenfolge der Kleidungsstücke beim Anziehen
- schnelles Ermüden bei körperlicher Tätigkeit
- Sport
- Wandern
- körperlich bewegtes Spielen
- leichte Ablenkbarkeit bei Aufgaben
- zu viele Informationen auf einem Blatt verwirren
- verbesserte Aufgabenleistung bei größerem Zeilenabstand, größerer Schrift
Keine Probleme mit:
2.5.4.1.2. Ideomotorische Dyspraxie¶
Probleme mit:
- Ausführung des eigenen Handlungsplanes
- Handlungen vollständig ausfüllen
- Schreibschwierigkeiten
- Handlungsschwierigkeiten
- Ausführung verstandener Anweisungen beeinträchtigt
- Reihenfolge wird leicht durcheinander gebracht
- Beeinträchtigung eines phantasievollen oder kreativen Spiels
Keine Probleme mit:
- Bewegungsabfolgen beschreiben
- Fehler anderer erkennen
- lesen
- reden
2.5.4.1.3. Ideatorische Dyspraxie¶
Schwierigkeiten bei der Planung und Beschreibung motorischer Handlungen, sie haben jedoch keine motorische Einschränkung.
Probleme mit:
- Serien bilden (mit Merkschwäche verbunden)
- Handlungsabfolgen beschreiben
- Wörter lesen
- schnell arbeiten
- Ordnung halten
Keine Probleme mit:
- einzelne Bewegungsabläufe nachmachen
- Wörter schreiben
2.5.4.1.4. Verbale Dyspraxie¶
Ca. 30 % der Kinder mit Dyspraxie haben zugleich eine verbale Entwicklungsverzögerung = verbale Dyspraxie.
Verbale Dyspraxie ist eine Störung der Planung der Sprechmotorik. Die Sprachorgane sind nicht beeinträchtigt (Zunge, Stimmbänder).
- Probleme der Planung der Sprechbewegungen
- Schwierigkeiten, die richtigen Wörter zur richtigen Zeit in der richtigen Reihenfolge auszusprechen.
- häufiges Husten oder Verschlucken bei der Nahrungsaufnahme
- Abfolge von saugen, schlucken und atmen erschwert
- hohe Speichelproduktion bei Nahrungsumstellung von Brei auf feste Mahlzeiten
- Sprachentwicklung deutlich verzögert
- deutlich späterer Beginn, zu sprechen
- anfangs nur wenige „Lall-Laute“
- später häufig Vokalsprache ohne Konsonanten („Oaaaa“, „Eeea“).
- häufig zugleich Probleme mit Grobmotorik (siehe motorische Dyspraxie)
- stolpern
- sich anstoßen, viele blaue Flecken
- Lernschwierigkeiten
Die Risikofaktoren für die Entstehung von Dyspraxie sind bislang noch ungeklärt. Wie bei ADHS scheinen Umwelteinflüsse während Schwangerschaft und Geburt das Risiko zu erhöhen.
2.5.4.2. Entwicklungsbezogene Koordinationsstörungen¶
Inwieweit sich der Begriff der Entwicklungsbezogenen Koordinationsstörungen von demjenigen der Umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen und Developmental coordination disorder (DCD) unterscheidet, ist unklar.
Es soll unterschiedliche Subtypen mit sechs Hauptsymptomgruppen geben:
- generelle Instabilität / leichtes Zittern
- verminderter Muskeltonus
- erhöhter Muskeltonus
- Unfähigkeit, eine gleichmäßige Bewegung auszuführen, bzw. einzelne Bewegungselemente in eine Gesamtbewegung zu verbinden
- Unfähigkeit, schriftliche Symbole zu bilden
- Schwierigkeiten bei der visuellen Perzeption, verbunden mit der Entwicklung der Augenmuskeln
Betroffene von Entwicklungsbezogenen Koordinationsstörungen sollen zu 50 % auch ADHS haben.
Das Risiko von ADHS ist auch bei Kindern von 4 bis 5 Jahren mit einer Developmental coordination disorder erhöht. Allerdings scheint die DSM-5-Skala hier seltener zu greifen.
2.5.4.3. Teilleistungsstörungen¶
Die Komorbidität von ADHS und Lernstörungen wird zwischen 10 % und 90 % angegeben.
Lernstörungen sollen mit ADHS-I häufiger als mit ADHS-HI korrelieren. Bei ADHS-Betroffenen sollen Schreibstörungen doppelt so häufig sein wie Lese-, Rechen- oder Rechtschreibstörungen.
2.5.4.2.1. Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie) (5 %)¶
Während Legasthenie eine genetisch verursachte Störung darstellt, ist eine Leseschwäche eine erworbene Störung und leichter durch Üben zu verbessern.
Legasthenie bei 17,6 % der ADHS-betroffenen Kinder vor und soll bei ADHS-I häufiger auftreten als bei ADHS-HI.
Analysen neuropsychologischer Messwerte deuten darauf hin, dass ein gleichzeitige Auftreten von Legasthenie und ADHS zumindest teilweise auf Schwächen bei der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit und dem Arbeitsgedächtnis zurückzuführen sein könnte. Bei einer psychoedukativen Beurteilung von Leseschwäche sollte stets auch auf ADHS und andere emotionale und Verhaltensschwierigkeiten geachtet werden.
Kognitive Profile sind bessere Prädiktoren für das Erreichen von Lese- und Schreibfähigkeiten als diagnostische Ergebnisse bei Kindern mit starken ADHS-Symptomen.
2.5.4.2.2. Rechenstörung (Dyskalkulie) (5 %)¶
Dyskalkulie ist eine genetisch verursachte Störung, während Rechenschwäche eine erworbene Störung und leichter durch Üben zu verbessern ist.
Dyskalkulie soll bei ADHS-I häufiger auftreten als bei ADHS-HI.
2.5.5. Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, PTSD) (5 % (Männer), 10 % (Frauen))¶
Prävalenz: 10 % aller erwachsenen Frauen und 5 % aller erwachsenen Männer erleiden eine posttraumatische Belastungsstörung.
60 % aller Männer und 50 % aller Frauen haben mindestens ein potentiell traumatisierendes Erlebnis im Leben.
Hiervon erleiden eine PTBS (PTSD):
- Vergewaltigungsopfer: 49 %
- Schwere Prügel oder körperliche Angriffe: 31,9 %
- Verbrechensopfer: 25 %
- Sexuelle Übergriffe ohne Vergewaltigung: 23,7 %
- Schwerer Unfall (Auto oder Zug): 16,8 %
- Schießerei oder Messerstecherei: 15,4 %
- Plötzlicher Tod einer nahestehenden oder geliebten Person: 14,3 %
- Kindliche lebensbedrohliche Krankheit: 10,9 %
- Opfer potentiell traumatischer Erlebnisse ohne Verbrechen: 9,4 %
- Zeugen eines Mords oder eines gewalttätigen Angriffs: 7,3 %
- Naturkatastrophe: 3,9 %
Schlafprobleme sind bei ADHS wie bei PTBS häufig. Bei PTBS entstehen diese oft in den ersten 2 Wochen nach dem traumatisierenden Ereignis und sind häufig von persistierenden Alpträumen geprägt, was für ADHS ebenfalls nicht typisch ist. Bei ADHS bestehen die Schlafstörungen dagegen meist bereits lebenslang.
Die Subskala “Posttraumatische Belastungsstörung” der Child Behavior Checklist (PTSD-CBCL) kann PTBS von ADHS gut unterscheiden.
Während ADHS mit verringerten Dopamin- und Noradrenalinspiegel einhergeht, wird bei PTSD eine übermäßigen Noradrenalin-Freisetzung vermutet. Da Noradrenalin (wie Dopamin) in Form einer Inverted-U-Kurve wirkt, könnte dies erklären, warum bei manchen Betroffenen ADHS-Medikamente (die Dopamin und Noradrenalin erhöhen) keine Verbesserung bewirken.
- Beziehungsverhalten:
- k-PTBS: Oft paranoid/misstrauischer Blick auf andere Menschen. Keine Angst verlassen zu werden. Ggf. bewusste Entscheidung für eine Beziehung
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ADHS: keine Angst vor Verlassen werden
- Stimmungsschwankungen:
- k-PTBS: Kein grundsätzliches Ausagieren, aber chronifizierte Depressionen und Daueranspannung
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ADHS: Kann schnell wütend werden. Ärger fast immer von kurzer Dauer und nicht regelhaft auf interaktionelle Auslöser gerichtet
- Risikoverhalten:
- k-PTBS: Gefahrensituationen werden nicht als solche erkannt
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ADHS: Innere Motiv: Spaß haben oder Entspannung durch Überreizung
Differenzierung des Maßes der Traumatisierung durch das IES-R (Impact of Event Scale - Revised). Beispielgrafik bei Semmler.
2.5.6. Tic-Störungen, Tourette-Syndrom (1 % bis 15 %)¶
Quelle
Prävalenz: 1 % im Grundschulalter (unterschiedlicher Schweregrad), 15 % im Grundschulalter (incl. leichter und vorübergehende Formen).
Tic-Störungen liegen bei 9,5 % der ADHS-betroffenen Kinder vor.
31 % bis 55 % der Kinder mit Tic-Störungen zeigen auch ADHS.
2.5.7. Internetsucht (3,9 %)¶
Prävalenz: unter Studierenden in Deutschland 3,9 % (2019) bis 7,8 % (2020, Corona-Lockdown-Jahr)
Internetsucht wurde durch eine Studie in zwei Subtypen unterschieden: einen Subtyp, der mit Impulsivität und ADHS-HI korrelierte und einen anderen Subtyp, der mit Zwanghaftigkeit korrelierte.
2.5.8. Störung des Sozialverhaltens / Conduct Disorder (1,5 % bis 5 %)¶
Quelle
Häufige Symptome:
- Aggressives Verhalten
- Lügen
- Stehlen
- Brandstiftung
- Weglaufen von zu Hause und der Schule
Conduct Disorder wird in der Regel von komorbiden Störungen begleitet. Häufig sind:
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ADHS
- Probleme mit der kognitiven Kontrolle
- Oppositionelle Trotzstörung (ODD)
- Depression (insbesondere bei Jugendlichen)
- geringes Belohnungsstreben
- Angststörung (insbesondere bei Jugendlichen)
Prävalenz: im Grundschulalter ca. 1,5 %, bei Jugendlichen ca. 5 %.
Eine oppositionelle Störung soll bei 46,9 % der ADHS-betroffenen Kinder vorliegen, Störungen des Sozialverhaltens bei weiteren 18,5 %.
Komorbidität zwischen ADHS-HI und der Störung des Sozialverhaltens wird je nach Studiendesign und Richtung des Zusammenhangs mit 15 bis 85 % der Fälle angegeben, insgesamt somit 4,7 fach häufiger als bei Nichtbetroffenen.
Oppositionelles Trotzverhalten und andere Sozialstörungen werden von einzelnen Fachleuten als Subtyp von ADHS (Rage-Typ) betrachtet. Wir vermuten darin eher eine eigene Störung, die eine hohe Komorbidität zu ADHS hat.
Abgrenzung zu ADHS: Aggression bei (rein) ADHS-Betroffenen reaktiv, Verteidigungsmotiv, keine Schädigungsabsicht. Aggressivität entsteht bei ADHS-Betroffenen häufig aus einer Fehleinschätzung der Situationen, wonach sie sich (vermeintlich zu recht) verteidigen. ADHS-Betroffene zeigen also eine reaktive und keine proaktive Aggressivität.
2.5.9. Emotional instabile Persönlichkeitstörung / Borderline-Persönlichkeitstörung (1 - 5 % (Frauen), 1 % (Männer))¶
Borderline-Persönlichkeitstörung (im Folgenden abgekürzt Borderline oder BPD genannt) ist eine häufige Fehldiagnose bei stark ausgeprägtem ADHS-C oder ADHS-HI.
Semmler führt dies darauf zurück, dass der weitverbreitetste Borderline-Test, das SKID-II Interview, wie auch dessen Nachfolger SKID-5, die Dimensionen emotionale Instabilität und Impulsivität in einem gemeinsamen Konstrukt abfragen und deshalb unangemessen vermischen. Die SKID-Interviews sollen dadurch häufige Fehldiagnosen verursachen. Das IKP (Inventar klinischer Persönlichkeitsakzentuierungen) trennt diese beiden Dimensionen und kann bei hohen Werten mit dem Borderline Persönlichkeitsinventar (BPI) nachexploriert werden.
Prävalenz Borderline: 0,7 % - 2,7 %, 1 % – 3 %, 5 % Bei psychiatrischen Patienten steigt die Prävalenz auf 11 % bis 12 %, bei stationären Patienten auf 22 % bis 50 %.
ADHS erhöht das Risiko einer BPD-Diagnose auf 33,7 %. Mehr hierzu unter Borderline PS / Emotional instabile PS im Beitrag Psychiatrische Komorbiditäten bei ADHS.
Wir erleben jedoch eine hohe Anzahl von Borderlinediagnosen, die sich letztendlich als ADHS herausstellen, das mit Stimulanzien vollumfänglich gut zu behandeln ist. In Anbetracht der hohen Symptomähnlichkeit und dem sich erst langsam entwickelnden Bewusstsein, wie weitreichende Symptome und Folgen ADHS haben kann, ist dies aus unserer Sicht nicht verwunderlich.
75 % der Borderline-Betroffenen sind Frauen.
Bei Borderline wird neben einer Symptomähnlichkeit zu ADHS häufig ein komorbides Auftreten von ADHS festgestellt. Eine Studie thematisiert die Frage, ob eine der Störungen (ADHS oder Borderline) sich mit der Zeit zu einer der anderen Störung wandeln kann. Scheinbar kommt ADHS dabei eher als vorausgehende und Borderline eher eine im Erwachsenenalter nachfolgende Störung in Betracht. Als wesentlicher Unterschied der Umwelteinflüsse wurde die bei Borderline erhöhte Anzahl traumatischer Kindheitserlebnisse berichtet. Dies, wie auch die weiter unten beschriebene unterschiedliche genetische Disposition, sprechen gegen eine regelmäßige Entwicklungsfolge zwischen den beiden Störungen. Gleichwohl kennen wir Einzelfälle, in denen wir eine Entwicklung von ADHS zu einem späteren Borderline bzw. ein späteres hinzutreten von Borderline für eine plausible Erklärung des Symptombildes halten.
Da Borderline mit einer genetischen Disposition auf dem MAO-A-Gen einhergeht, welche zugleich mit Aggressionen und Verhaltensstörungen einhergeht, dürfte Borderline vor allem mit ADHS-HI und kaum mit ADHS-I gemeinsam auftreten.
ADHS ähnelt im Verlauf (früher Beginn, überdauernde Verhaltensmuster und mögliche Fortdauer im Erwachsenenalter) einer Persönlichkeitsstörung.
Es gibt Stimmen, die ADHS-HI (mit Hyperaktivität) und Borderline als ein durch Symptomintensität variiertes Kontinuum betrachten. Eine Studie fand, dass ADHS und Borderline sich weniger anhand einzelner Symptome abgrenzen lassen, sondern sich vor allem in der Intensität der Borderline-Symptome unterscheiden. Hallowell berichtet von einem ADHS-HI-Typ mit Borderlineanklängen. Wir sehen ebenfalls eine auffällige Verwandtschaft bis zu einer für Laien starken Verwechselbarkeit, gehen jedoch davon aus, dass die bei Borderline hinzutretende Aggressivität durch Gene vermittelt wird, die für ADHS nicht typisch sind. Wie die korrelierenden Genvarianten zeigen, ist ADHS von einem Defizit von Dopamin und Noradrenalin im dlPFC und Striatum geprägt, während bei Borderline eher ein normaler Dopaminspiegel im PFC und ein Überschuss an Dopamin im Striatum besteht (siehe unten).
Borderline und ADHS haben eine sehr ähnliche Symptomatik, die leicht verwechselt wird, und eine hohe Komorbidität. Etwa 50 % der Borderline-Betroffenen leiden auch an ADHS.
Der bei Borderline beschriebene “innere Druck” (der bis zu selbstverletzendem Verhalten führen kann) ist bei ADHS ebenfalls bekannt.
Abgrenzung der Symptomatik von ADHS und Borderline:
Die bisherige Annahme, dass ADHS und Borderline sich durch den Zeitpunkt des Auftretens (ADHS früher, Borderline später) unterscheiden, wird zwischenzeitlich in Frage gestellt.
Der BPFSC-11 scheint gut in der Lage zu sein, Borderline und ADHS zu differenzieren.
Gemeinsame Symptome von Borderline und ADHS:
-
Impulsivität
- bei ADHS-HI/ADHS-C deutlich stärker als bei Borderline
- Hohe Impulsivität bei Borderline soll auf ADHS-HI-Komorbidität hindeuten.
- andere Ansicht: hohe aggressive Impulsivität ein Endophänotyp von BPD. Dies halten wir für wahrscheinlicher, da DAT 9R, das Gen, das bei Borderline für aggressiv-Impulsives Verhalten in Verdacht steht, nicht mit ADHS assoziiert ist. (siehe unten).
- Eine Untersuchung fand bei ADHS und Borderline eine erhöhte selbstberichtete Impulsivität, aber nur bei ADHS eine erhöhte Handlungsimpulsivität
- Borderline: Impulsivität nur auf negative Affekte, ADHS: Impulsivität auch in Bezug auf positive Affekte
- Borderline: Impulsivität nur unter Stress; ADHS: stressunabhängig
- Suchtprobleme
- affektive Labilität (ADHS-HI) / affektive Instabilität (Borderline)
- Bei ADHS-HI-Betroffenen (mit Hyperaktivität) und Borderline-Betroffenen sind Verhaltens- und Affektregulation in ähnlicher Weise gestört.
- schnelle Stimmungsschwankungen
- emotionale Dysregulation ist bei Borderline ist noch stärker ausgeprägt als bei ADHS. ADHS-Betroffene haben eine bessere Nutzung von adaptiven kognitiven emotionalen Strategien als Borderlinebetroffene. Alle Emotionen werden erheblich intensiver (und in belastender Intensität) wahrgenommen als bei Nichtbetroffenen.
- Auch bei Borderline tritt die Verhaltensdysregulation nicht in neutralen Lebensumständen auf, sondern lediglich in stressbesetzten Momenten.
- Stimmungsschwankungen:
- Borderline: Ärger und Aggression, oft durch interaktionelle Auslöser.
-
ADHS: können schnell wütend werden. Ärger fast immer von kurzer Dauer und nicht regelhaft auf interaktionelle Auslöser gerichtet. Der Affekt kann aber auch ins hypomane kippen.
- Aufmerksamkeitsstörungen
- bei ADHS häufig bei zu geringem Arousal (fehlende Aktivierung / Stimulierung)
- bei BPD häufiger bei Spannungsanstieg als dissoziatives Phänomen
- Borderline: keine Aufmerksamkeitsprobleme bei langweiligen Dingen, ADHS: Aufmerksamkeitsprobleme insbesondere bei langweiligen Dingen
- Unzufriedenheit
-
Dysphorie bei Inaktivität
- Langeweile (ADHS-HI) / Dysphorie, Langeweile, Leere (Borderline)
- Selbstwertproblematik / Kränkbarkeit / Rejection Sensitivity
- Erregbarkeit, Wutausbrüche
- Stressintoleranz
- Stressoren führen bei Borderline zu erheblich höherer Stressbelastung, die wesentlich langsamer zurückgeht als bei Nichtbetroffenen.
- konfliktträchtige Beziehungen (ADHS-HI) / Instabilität in Beziehungen (Borderline)
- Soziale Schwäche, beeinträchtigtes Sozialverhalten
- Schlafprobleme häufig
- Borderline zeigt häufig eine verlängerte REM-Phase und Albträume (im Schnitt jede 2. Nacht). Albträume sind für ADHS untypisch.
- Einschlafstörungen, verkürzte Schlafdauer, geringe Schlafeffizienz mit subjektiv weniger erholsamem Schlaf sind bei Borderline häufig, ebenso wie bei ADHS.
- Einschlafschwierigkeiten bei Borderline sollen sich gut mit Clonidin verbessern lassen. Wahrscheinlich könnte auch Guanfacin hilfreich sein.
- Innere Unruhe, Ruhelosigkeit
- erforderlicher Spannungsabbau
- bei ADHS-HI (häufiger Männer): Sport, Sex
- bei BPD (häufiger Frauen): Dissoziation, Freezing, Selbstverletzung, Sex
- Risikoverhalten
- BPD: Inneres Motiv: aus Gefühllosigkeit herauskommen oder Selbstbestrafung
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ADHS: Inneres Motiv: Spaß haben oder Entspannung durch Überreizung
ADHS-Symptome, die für Borderline untypisch sind:
- Konzentrationsprobleme
- Aufmerksamkeitsprobleme
- Aufmerksamkeitsprobleme bei langweiligen Dingen
- Ablenkbarkeit
- Hyperfokus
- Motivationsprobleme
- kognitive Beeinträchtigungen
- Hyperaktivität
-
Dysphorie bei Inaktivität
- hoher Redefluss (Logorrhö, Polyphrasie)
- Gedankenjagen, Gedankenkreisen
- Störungen der Exekutivfunktionen
- Eine Untersuchung fand bei ADHS und Borderline eine erhöhte selbstberichtete Impulsivität, aber nur bei ADHS eine erhöhte Handlungsimpulsivität
- Verlangsamung der Reaktionszeit wobei andere Untersuchungen auch verkürzte Reaktionszeiten bei ADHS feststellten
Symptome von Borderline, die für ADHS untypisch sind:
- selbstschädigendes / selbstverletzendes Verhalten
Impulsives Verhalten als Reaktion auf intensive negative Gefühle (“negative urgency”) ist eines der unterscheidungskräftigsten Symptome, das Borderline kennzeichnet.
- z.B. ritzen (dennoch ist nicht jedes selbstverletzende Verhalten Borderline)
- Selbstverletzungen verringern bei Borderline-Betroffenen die nach einem Stresstest sehr hohe subjektive Stressbelastung und objektive Amygdalaaktivität (durch Erhöhung der Konnektivität in frontal-limbischen Gehirnregionen, die die Amygdalaaktivität dämpfen), während sie bei Nichtbetroffenen die (niedrigere) Stressbelastung und objektive Amygdalaaktivität weiter erhöhen.
- Selbstverletzungen, die unbeabsichtigt erfolgen oder eher der Selbststimulation dienen, deuten daher nicht auf Borderline, sondern eher auf ADHS
- Schwarz-weiss denken
- Grautöne, ein sowohl-als-auch, vermittelnde Positionen sind schwer wahrnehmbar und schwer erträglich.
- In Diskussionen neigen Betroffene dazu, extreme Positionen einzunehmen. Für Gesprächspartner kann sich das so anfühlen, also würde der Betroffene stets wie von einem Stück Seife herunterrutschen, also entweder ins eine oder andere Extrem fallen, aber keine mittlere sowohl-als-auch oder vermittelnde Position einnehmen können.
- Identitätsstörungen
- Dissoziation
- instabiles Selbstverständnis
- Verlassenheitsängste
- sich einsam fühlen, selbst wenn unter Menschen. Wir vermuten, dass dies bei Borderline deutlich stärker ausgeprägt ist als das Gefühl bei ADHS, nicht dazuzugehören
- instabile Beziehungen
- Überhöhung zu Beginn
- Abwertung zum Schluss
- Angst vor Nähe und Angst vor dem Verlassen werden
- In höherem Lebensalter oftmals paranoide Kognitionen
- Oftmals nachtragend.
- Selbstmordgedanken
- paranoide Symptome
- Starkes Empfinden von Schuld und Scham
- Durchdringendes Gefühl Innerer Leere
Bei komorbidem ADHS + Borderline sollen insbesondere stärker ausgeprägt sein:
-
Impulsivität (als bei ADHS allein)
- Symptome der Regulierung von Merkmalen und Emotionen (als bei Borderline allein)
Bei Kindern und Jugendlichen erhöhen bestimmte Charaktereigenschaften das Risiko einer späteren Borderlinestörung:
- affektive Instabilität
- negative Affektivität
- negative Emotionalität
- unangemessene Wut
- schlechte emotionale Kontrolle
-
Impulsivität
- Aggression
Borderline-Betroffene unterscheiden sich von Betroffen anderer Persönlichkeitsstörungen vornehmlich durch eine ausgeprägte histrionische sowie durch häufigere narzisstische, bipolare / zyklothyme oder aggressive Ausprägung. Es besteht eine höhere Labilität in Bezug auf Wut und Angst sowie eine größere Oszillation des Auftretens zwischen Depression und Angst. Das Maß der Intensität der Emotionswahrnehmung ist überraschenderweise nicht höher. Zwanghafte, schizoide und ängstlich-vermeidende Ausprägungen sind dagegen seltener. Diese Ergebnisse sind geschlechtsunabhängig.
Dopaminerge Substanzen (Stimulanzien) können bei Borderline impulsives und aggressives Verhalten provozieren. Dies deutet auf einen Dopaminüberschuss bei Borderline hin, was sich vom Dopamindefizit bei ADHS unterscheidet.
Dies deckt sich mit Untersuchungsergebnissen, nach denen Borderline mit der DAT1-Genvariante 9/9 und 9/10 korreliert, die eine geringere DAT-Expression im Striatum verursachen, sodass aufgrund des geringeren Dopaminabbaus durch DAT mit einem höheren Dopaminspiegel im Striatum zu rechnen ist.
Eine ADHS-Behandlung mit Stimulanzien ist auch bei komorbidem Borderline möglich
Die 9-repeat Variante des DAT1 Gens bewirkt einen Dopaminüberschuss im synaptischen Spalt, weil die Dopamintransporter das Dopamin dann nur unzureichend präsynaptisch wiederaufnehmen. DAT 9R ist mit Affektiven Störungen und Borderline assoziiert.
Borderline korrelierte häufiger mit
- DAT1 9/9 (OR = 2,67)
- DAT1 9/10 (OR = 3,67)
- HTR1A G/G (OR = 2,03)
Das Risiko für Borderline erhöht sich für Träger der Genvariantenkombinationen
- DAT1 9/10 und HTR1A G/G (OR = 6,64)
- DAT1 9/9 und HTR1A C/G (OR = 5,42).
ADHS ist nicht mit DAT1 9R assoziiert, sondern mit DAT1 10/10, die eine erhöhte DAT-Ausprägung im Striatum bewirkt, was mit einem erhöhten Dopaminabtransport und daher mit einem verringerten Dopaminspiegel im Striatum einhergeht. Dies erklärt nun, warum Stimulanzien, die den Dopamin- und Noradrenalinspiegel im PFC und Striatum erhöhen, bei ADHS gut wirken, während sie bei Borderline kontraproduktiv sein können.
Ein Review berichtet dagegen, dass DAT1 9R mit ADHS im Kindesalter und DAT1 10R mit ADHS im Erwachsenenalter assoziiert sei und dass DAT1 9R bei gesunden Menschen mit einer erhöhten DAT-Aktivität korreliere (Metastudie, k = 12, n = 511).
5 HTTPLR und 5-HT2c sind zwei weitere Kanditdatengene bei Borderline.
Borderline-Betroffene verfügen möglicherweise über mehr regionale μ-opioide Rezeptoren in einigen Gehirnregionen und über weniger regionale μ-opioide Rezeptoren in anderen Gehirnregionen. Die emotionale Dysregulation (Traurigkeit) soll mit der Abweichung der μ-opioiden Rezeptoren gegenüber Nichtbetroffenen korrelieren.
Antipsychotika bewirken bei BPD signifikante, jedoch kleine Verbesserung der kognitiven Wahrnehmungssymptome, der Stimmungslabilität und der globalen Funktionen. Ausgeprägter ist die Wirkung in Bezug auf Wut / Zorn. Sie haben keinen signifikanten Einfluss auf Verhaltensimpulsivität, Depression und Angst.
Eine Studie an n = 17.532 Patienten mit BPD fand bei unterschiedlichen Behandlungsformen:
- das Risiko einer psychiatrischen Rehospitalisierung
- erhöht durch
- Benzodiazepine (HR = 1,38)
- Antipsychotika (HR = 1,19)
- Antidepressiva (HR = 1,18)
- unverändert durch
- verringert durch
-
ADHS-Medikamente (HR = 0,88)
- Clozapin (HR = 0,54)
- Lisdexamphetamin (HR = 0,79)
- Bupropion (HR = 0,84)
- Methylphenidat (HR = 0,90)
- das Risiko von Krankenhausaufenthalten oder Tod
- erhöht durch
- Benzodiazepine (HR = 1,37)
- Antipsychotika (HR = 1,21)
- Antidepressiva (HR = 1,17)
- unverändert durch
- verringert durch
-
ADHS-Medikamente (HR = 0,86)
2.5.10. Zwangsstörung (1 bis 3 %)¶
Quelle
Prävalenz: Lebenszeitprävalenz von 1 bis 3 %, nach anderen Quellen 4,2 % aller Frauen, 3,5 % aller Männer innerhalb eines Jahres.
Mädchen unter 18 Jahren: Prävalenz 0,96 %, Jungen 0,63 %.
Olfaktorische Störungen (Störungen des Geruchsempfindens) sind bei ASS und Zwangsstörungen häufig, nicht jedoch bei ADHS.
2.5.11. Antisoziale Persönlichkeitsstörung (0,2 - 3 %)¶
Quelle
- Hohe Impulsivität
- Starkes Novelty Seeking / Sensation Seeking
- Selbstbezogenheit / Egozentrik
- mangelnde Empathie gegenüber anderen
- nicht fühlen können, wie andere sich fühlen
Untergruppen der antisozialen Persönlichkeitsstörung:
- impulsiver Typus
- häufige Komorbidität zu ADHS-HI / ADHS-C
- emotional hochempfindsam / hyperreagibel
- erhöhte Erregbarkeit
- hohe Impulsivität
- reaktive Aggression – als unmittelbare Reaktion auf Auslöser
- geringe Stresstoleranz
- psychopathischer Typus
- seltene Komorbidität zu ADHS-HI / ADHS-C
- emotional unsensibel / hyporeagibel
- aktive Aggression – zweckgerichtet, instrumentelle Gewalt
- keine erhöhte Erregung bei Frustration
- keine verringerte Stresstoleranz
Abgrenzung zu ADHS: Aggression bei (rein) ADHS-Betroffenen reaktiv, Verteidigungsmotiv, keine Schädigungsabsicht Aggressivität entsteht bei ADHS-Betroffenen häufig aus einer Fehleinschätzung der Situationen, wonach sie sich (vermeintlich zu recht) verteidigen. Wir sehen darin einen Zusammenhang zu Rejection Sensitvity als überschießende Empfindlichkeit auf vermeintliche oder tatsächliche Zurückweisung / Kränkbarkeit. ADHS-Betroffene zeigen also eine reaktive und keine proaktive Aggressivität.
ADHS-Betroffene erkennen ihre plötzliche aggressive oder verbale Entgleisungen oder Impulskontrollstörungen oft mit nur wenig Abstand als unangemessen und können sich meist entschuldigen, im Gegensatz zu Betroffenen mit psychopathischen Persönlichkeitsstrukturen.
Gemeinsame Symptome von antisozialer Persönlichkeitsstörung und ADHS:
-
Impulsivität (untypisch für ADHS-I)
- schnelle Stimmungsschwankungen
ADHS-Symptome, die für antisoziale Persönlichkeitsstörung untypisch sind:
- Innere Unruhe (bei atypischer Depression typisch, weniger bei melancholischer Depression)
- Konzentrationsprobleme
- Aufmerksamkeitsprobleme
-
Dysphorie bei Inaktivität
- hoher Redefluss (Logorrhö, Polyphrasie)
- Gedankenjagen, Gedankenkreisen
Symptome von antisozialer Persönlichkeitsstörung, die für ADHS untypisch sind:
- Kriminelles Verhalten
- Täuschung anderer
- Missachtung von sich selbst und anderen
- Mangel an Reue
2.5.12. Narzissmus (0,5 bis 2,5 %)¶
Prävalenz 0,5 % bis 2,5 %.
Narzissmus und ADHS teilen einige möglichen Symptome. Ähnlich sind:
- Depressive Symptome
- Gefühl innerer Leere
- Niedergeschlagenheit
- unspezifische Ängste
- Beziehungen zu anderen Menschen belastet oder gestört
- Abwertung anderer um eigenen Wert zu betonen (nur Narzissmus)
- Emotionsprobleme
- Bei Narzissmus wie bei ADHS verstärkt Probleme, eigene Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen und zu leben
-
Störung des Selbstwertgefühls
2.5.13. Schizophrene Störung (1 %)¶
Die Lebenszeitprävalenz liegt bei ca. 1 %.
Mädchen unter 18 Jahren: Prävalenz 0,76 %, Jungen 0,48 %.
Schizophrenie ist hochgradig erblich (wie ADHS ca. 80 %) und entwickelt sich in der Regel erst nach der Jugend. Üblicherweise gehen jedoch Vorstufen aus der Kindheit voraus, die nicht der Schizophrenie selbst ähneln, sondern genetisch Schizophrenie zu indizieren scheinen.
Die Negativ-Symptome von Schizophrenie beruhen auf Dopaminmangel. Sie ähneln den ADHS-Symptomen.
Die Positiv-Symptome beruhen dagegen auf einer übermäßige subkortikalen präsynaptischen Dopaminübertragung (Dopaminhypothese). Diese wird zwar durch antipsychotische Dopamin-D2-Rezeptor-Antagonisten verringert, bei Schizophrenie scheinen jedoch D2-/D3-Rezeptoren nur sehr gering erhöht und DAT überhaupt nicht verändert zu sein, sodass andere Medikamentierungsansätze sinnvoller sein dürften.
Der übermäßige subkortikale Dopaminantrieb beruht wahrscheinlich auf Veränderungen der kortikalen Funktion, insbesondere der Verringerung der kortikalen NMDA-Rezeptor-vermittelten Glutamatsignalisierung, die die kortikale Dopamin- und GABA-Funktion beeinträchtigt. Diese kortikalen Veränderungen bewirken vermutlich die kognitiven Beeinträchtigungen und negativen Symptomen der Schizophrenie.
Auch bei Schizophrenie wird ein Zusammenwirken von genetischen Faktoren, Umwelteinflüssen sowie physischen und psychologischen Faktoren als Ursache angenommen. Als Umwelteinflüsse für Schizophrenie wurden emotionale Traumata, sozialer Stress oder halluzinogene Drogen festgestellt.
⇒ Gene + frühkindlicher Stress als Ursache anderer psychischer Störungen
Das bei Schizophrenie (als eines von 50 oder mehr Kandidatengenen) involvierte COMT rs4680 verstärkt den Abbau von Dopamin und Noradrenalin, indem es ein aktiveres und thermisch stabileres COMT-Enzym bildet. Dies bewirkt höhere schizotypische Symptome.
Dies lässt sich mit der neuere Dopaminhypothese vereinbaren, nach der die Positivsymptome von Schizophrenie nicht durch einen allgemein erhöhten Dopaminspiegel im frontalen Cortex (und im Nucleus accumbens, einem Teil des Striatums), sondern durch eine erhöhte Aktivität (firing rate) des mesolimbischen Systems verursacht werden, die wiederum durch einen Dopaminmangel im ventralen Tegmentum hervorgerufen oder beeinflusst werden.
Schizophrenie und Aufmerksamkeit:
- Sensibilität für sensorische Stimulation erhöht
- Hochsensibilität bewirkt Reizüberflutung
- Aufmerksamkeitsselektion für einzelne Ereignisse gestört
- Konzentration / Konzentrationsaufrechterhaltung auf relevante Aspekte einer Aufgabe gestört.
Symptome von Schizophrenie, die für ADHS untypisch sind:
- Zeichnungen sind unräumlich, keine dreidimensionale Darstellung
- Ironie / Sarkasmus werden nicht verstanden
- Olfaktorische Störungen.
2.5.14. Psychosen (1 %)¶
2.5.15. Autismusspektrumstörung (ASS) (0,9 %)¶
Quellen
Prävalenz ASS: ca. 0,9 %
Wie viele ASS-Betroffene auch ADHS-Symptome zeigen, ist offen. Eine Metaanalyse von 23 Artikeln fand für ASS ohne intellektuelle Beeinträchtigung Ergebnisse von 2,6 bis 95,5 %. Einzelne Quellen gehen davon aus, dass rund 42 % bis 50 % aller ASS-Betroffenen auch an ADHS leiden.
Ein Review kam zu dem Ergebnis, dass ADHS und ASS ein Kontinuum sein könnten.
Wahrscheinlich haben ADHS und Autismus gemeinsame neurologische/genetische Wurzeln.
- Tiefgreifende Entwicklungsstörung
Prävalenz: ca. 0,6 %
- Autismus
Prävalenz: ca. 0,3 %
- Asperger
Prävalenz: ca. 0,084 %
- Desintegrative Störung
Prävalenz: 0,008 % (Ein Betroffener Mensch unter 12500 Menschen)
- Rett-Syndrom
Prävalenz: 0,006 % (Ein Betroffener Mensch unter 10000 bis 17000 Menschen)
Betrifft nur Mädchen
Symptome des Rett-Syndroms:
- Stereotypien der Hände (washing movements)
- teilweises autistisches Verhalten
- Demenz
- verringertes Kopfwachstum
- epileptische Anfälle (späteres Stadium)
- Spastiken (späteres Stadium)
- Apraxien
- Muskelschwund
- Bewegungsstörungen im Bereich des Thorax
- Sozialverhalten und Spielentwicklung stark gehemmt
- Sozialinteresse besteht weiter
-
ASS wie ADHS zeigen eine Downregulation von Neuroligin-Genen, die bei ASD noch ausgeprägter war.
Differentialdiagnostik zu ADHS:
Kinder mit ASS hatten 15 oder mehr der 30 Symptome (Durchschnitt: 22 = 73 %) der Checklist for Autism Spectrum Disorder symptoms, während Kinder mit ADHS im Durchschnitt 4 Symptome hatten (13,3 %), keines davon 15 oder mehr. ADHS-Symptome waren dagegen bei Kindern mit ASS weit verbreitet.
ADHS-betroffene Kinder zeigten erhöhte Werte im Social Responsiveness Scale (SRS), die jedoch nicht an die Werte von ASS-Betroffenen heranreichten.
Für ASS spricht:
- Unaufmerksamkeit eher aufgrund zu großer Detailorientierung bei ASS (gegenüber einem Übersehen von Details bei ADHS)
- Konzentration bricht bei Störung von Routinen zusammen bei ASS (gegenüber fehlender Routinen und schnellem springen zwischen verschiedenen Dingen bei ADHS)
- Unerwartetes wird eher als unangenehme Irritation und Störung der eigenen Struktur gesehen (denn als willkommene Abwechslung bei ADHS)
- Routinen aufgrund eigenem Bedürfnis nach Struktur (gegenüber mühsames angewöhnen von Routinen, um Struktur nicht zu sehr zu verlieren bei ADHS)
- Hohe Schwierigkeiten in sozialen Situationen aufgrund innerer Unsicherheit, wie sich richtig zu verhalten ist (gegenüber Anecken durch unbedachte Verhaltensweisen bei ADHS)
- Schwierigkeiten, soziale Spielregeln zu erfassen (gegenüber Schwierigkeiten, die gut erfassten sozialen Spielregeln einzuhalten bei ADHS)
- Hohe Detailverliebtheit sprengt Zeitrahmen für Tätigkeiten (gegenüber Projektabbrüchen aufgrund Interessenwechsel bei ADHS)
- Braucht Ordnung für eigene innere Struktur, findet in Unordnung eher Dinge wieder (gegenüber Ordnung aufgrund anderer Prioritäten nicht halten können bei ADHS)
- Abweichung vom Plan führt zu Irritation (gegenüber häufiger Abweichungen vom Plan aufgrund eigener Spontanität und Impulsivität)
- reduzierte Flexibilität (gegenüber eher gering beeinträchtigter Flexibilität bei ADHS)
- Konzentration kann bei längeren und repetitiven Aufgaben aufrecht erhalten werden (gegenüber Schwierigkeiten bei Aufrechterhaltung von Konzentration bei monotonen langweiligen Aufgaben bei ADHS)
- Motorische Unruhe eher in unruhigen Situationen zum abreagieren (gegenüber motorischer Unruhe in ruhigen Situationen zum stimulieren bei ADHS)
- Motorische Unruhe eher aus Aversion gegen etwas = weglaufen (gegenüber aus Interesse an etwas = hinlaufen bei ADHS)
- Lockere Gespräche oder Smalltalk unbeliebt, da eigene Denkstrukturen durchkreuzt werden; zuweilen Kompensation durch strikte Gesprächsführung (bei ADHS sei dies nicht vorhanden; unserer Auffasung nach ist dies bei ADHS schon vorhanden, aber schwächer)
- Fehlendes Gefühl für Situation und Stimmung (bei ADHS vorhanden)
- Unterbrechen anderer selten (wie ADHS-I, anders als ADHS-HI / ADHS-C)
- In einem eher dunklen, völlig reizarmen Raum warten zu müssen ist eine eher angenehme Vorstellung (bei ADHS-HI / ADHS-C sehr unangenehm; bei ADHS-I beides möglich)
Bei ASS scheint die intracorticale Bahnung (Fazilitation) unbeeinträchtigt, während bei ASS mit komorbidem ADHS die intracorticale Bahnung gestört zu sein scheint. Dies könnte einen Biomarker darstellen, um ASS und ADHS zu unterscheiden.
Bahnung ist neurophysiologisch die Förderung eines Reflexes oder einer Nervenzellen-Aktivität durch das Absenken der Reizschwelle für die Weiterleitung des Aktionspotentials einer Nervenzelle. Bahnung entsteht hauptsächlich bei wiederholter Erregung derselben Nerven-Bahnen oder durch die Summierung unterschwelliger Reize.
ASS wie ADHS zeigten gegenüber Kontrollen langsamere orientierende Reaktionen auf relativ unerwartete räumliche Zielstimuli, was bei ASS mit höheren Amplituden der Pupillenerweiterung einherging. ADHS zeigte kürzere cue-evozierte Pupillenerweiterungs-Latenzen als ASS und Kontrollen.
Mehrere Untersuchungen befassten sich mit Unterschieden zwischen ASS und ADHS.
ASS-Symptome, die für ADHS untypisch sind:
- geringeres verbales Verständnis bei ASS als bei ADHS
- geringerer Wortschatz bei ASS
- geringeres Verstehen bei ASS
- schlechtere Bildkonzepte bei ASS
- schlechtere Bildvervollständigung bei ASS
- langsamere Verarbeitungsgeschwindigkeit bei ASS
- geringeres soziales Urteilsvermögen bei ASS
- schlechtere Reaktion auf Namensruf im Alter von 24 Monaten bei ASS
- höheres Shifting bei ASS
- schlechtere emotionale Selbstregulation bei ASS
-
ASS zeigt wie Legasthenie Defizite in der globalen Bewegungsverarbeitung, anders als ADHS. ASS und Legasthenie zeigen eine signifikant niedrigere Flimmerverschmelzungsfrequenz als gesunde Kontrollen oder ADHS-Probanden.
- Selbstberuhigung durch repetitives Verhalten und Routinen
- Beziehungsbedürfnis stark differenziert Wichtig, Sozialkontakte in Frequenz und Intensität steuern zu können. Nicht nachtragend, sondern pragmatisch.
- Shutdown: Erstarren und nicht mehr reagieren können.
- Meltdown: Offenes aggressives ausrasten, auch mit körperlichen Angriffen oder Schubsen, um eigene Grenzen zu verteidigen.
- hier auch zuweilen Selbstverletzendes verhalten zum Spannuingsabbau möglich
ADHS-Symptome, die für ASS untypisch sind:
- schlechteres Arbeitsgedächtnis typisch für bei ADHS, weniger für ASS
- Aufmerksamkeitsregulierungsprobleme
- Planungs- und Organisationsprobleme (die maßgeblich durch das Arbeitsgedächtnis bestimmt werden) typisch für ADHS, weniger für ASS
- Inhibitionsprobleme typisch für ADHS, weniger bei ASS
- weniger Punkte im Digit Span bei ADHS als bei ASS
- schlechtere graphomotorische Verarbeitung bei ADHS
-
Novelty Seeking typisch für ADHS, nicht für ASS
- Hyperaktivität
- überdurchschnittlich viele Blicke in die Augen des Gegenübers, bereits im Vergleich zu Nichtbetroffenen
- Risikoverhalten: Spaß durch Überreizung
ADHS wie ASS zeigen strukturelle Anomalien im PFC, im Kleinhirn und in den Basalganglien. Betroffene mit komorbider ASS und ADHS zeigten keine signifikanten Unterschiede in den Volumina des PFC, des Kleinhirns oder den Basalganglien. Sie wiesen jedoch signifikant geringere Volumina des linken postzentralen Gyrus auf, jedoch nur Kinder, nicht aber Jugendliche.
Ein Review verglich die katecholaminerge und cholinerge Neuromodulation bei ASS und ADHS. Die Autoren kanmen zu dem Ergebnis:
- Stimulanzien eine praktikable Behandlungsoption für eine (möglicherweise genetisch definierte) ASS-Subgruppe sein könnten
- eine Störung des Kleinhirns (Cerebellum) ist bei ASS viel häufiger als bei ADHS
- in beiden Fällen könnte dies eine Noradrenalin- oder Acetylcholin-gesteuerte Behandlungsoption eröffnen
- ein Defizit des kortikalen Salienznetzwerks ist in Untergruppen von ASS wie ADHS beträchtlich
- Biomarker wie die Augenblinzelrate oder pupillometrische Daten können Wirksamkeit einer gezielten Behandlung eines dem zugrunde liegenden Defizits mittels Dopamin, Noradrenalin oder Acetylcholin vorhersagen, bei ADHS wie bei ASS
ASS sei von hoher Aggression und Risikoverhalten gekennzeichnet. Darüber hinaus sei ASS überdurchschnittlich häufig bei Kindesmissbrauch involviert. Aggression und Hochrisikoverhalten sind auch Kennzeichen des ADHS-HI-Subtyps.
Ein Reviewartikel fand bei ADHS ca. verdoppelte, bei ASS ca. halbierte Noradrenalinwerte im Blut, im Vergleich zu Nichtbetroffenen. Der Serotoninblutspiegel war dagegen bei bei ASS um das vierfache erhöht, bei ADHS um mehr als das vierfache verringert.
Auch bei Kindern mit ADHS war die Fähigkeit, Ironie zu erkennen, beeinträchtigt.
2.5.16. Fragiles X – Syndrom (0,22 % (Männer) bis 0,66 % (Frauen))¶
Prävalenz: 1/150 (0,66 %) Frauen, 1/456 (0,22 %) Männern in den USA
Quelle
2.5.17. Pervasive developmental disorders (PDD) (0,06 %)¶
Prävalenz: 60/100.000 (0,06 %)
PDD ist gekennzeichnet durch schwere Defizite im Sozialverhalten und in der Kommunikation, sowie durch repetitive und stereotype Interessen und Verhaltensweisen. Es bestehen häufig Komorbiditäten zu verminderter Intelligenz, ADHS, Aggression und Zwangsstörungen.
2.5.18. Wilson Disease (0,0033 %)¶
Wilson Disease (Prävalenz: 1 von 30.000 Menschen, 0,0033 %) geht mit überhöhten Kupferspiegeln einher.
Betroffene von Wilson Disease zeigen mit ADHS verwechselbare Symptome.
Wilson Disease geht mit einem ATP7B-Gendefekt einher und zeigt einen Kupferüberschuss.
Obwohl Dopamin-β-Hydroxylase, die Dopamin zu Noradrenalin umwandelt, hierfür von Kupfer abhängig ist, scheint diese bei Wilsons Disease nicht involviert zu sein.
2.5.19. Monoamin-Neurotransmitterstörungen¶
Als Monoamin-Neurotransmitterstörungen werden genetische Defekte an Transportern oder Defizite an Vorstoffen, Cofaktoren oder Abbauenzymen von Monoaminen (z.B. Dopamin) bezeichnet.
Symptome eines schweren Dopamindefizits können sein:
Symptome eines schweren Serotonindefizits können sein:
- Temperaturprobleme
- Schwitzen
-
Dystonie
Um Defizite von Vorstoffen und spezifische spezifische Stoffwechseldefekte aufzuspüren ist die Messung von Pterinen (insbesondere Biopterin und Neopterin) im Urin hilfreich:
2.5.19.1. Genetisch bedingte BH4-Störungen (ca. 0,0002 %)¶
Genetisch bedingte Störungen der Tetrahydrobiopterin-Synthese (BH4, ein wichtiges Enzym für die Dopaminsynthese) wie
- autosomal rezessiver (AR) Guanosintriphosphat-Cyclohydrolase-Mangel (GTPCH-Mangel)
-
Prävalenz unter 1 / 1.000.000 (unter 0,0001 %)
- 46 % aller BH4-Störungen
- 6-Pyruvoyl-Tetrahydropterin-Synthase-Mangel (PTPS)
-
Prävalenz: 1 / 500.000 bis 1/ 1.000.000 (0,0001 % bis 0,0002 %)
- 54 % aller BH4-Störungen
scheinen ADHS und andere psychische Störungen wie Angstzustände, Depressionen, Aggression oder oppositionelles Trotzverhalten mitzuverursachen.
Siehe hierzu auch Tyrosinhydroxylase im Beitrag Dopaminbildung.
2.5.19.2. Fehlende oder stark verringerte DAT¶
Es gibt (selten) Menschen ohne oder mit sehr stark verringerten DAT. Diese zeigen indes weitere Symptome, die nicht ADHS-typisch sind (z.B. frühkindliche Parkinson-Dystonie) und werden daher selten mit ADHS und eher mit Cerebralparese fehldiagnostiziert. Viele Betroffene sterben bereits als Teenager. Ein Überschuss an extrazellulärem Dopamin führt durch Aktivierung von präsynaptischen D2-Autorepezptoren zu einer verminderten Produktion von Dopamin (und damit zu einer verringerten Einlagerung von Dopamin in die Vesikel) sowie zu einer Downregulierung oder Desensibilisierung von Dopaminrezeptoren, wodurch ein Mangel an phasischem Dopamin und ein Dopaminwirkmangel entsteht.
2.5.20. Vorwiegend milieubedingte Verhaltensauffälligkeiten¶
Vorwiegend milieubedingte Verhaltensauffälligkeiten meint beispielsweise mangelnde Zuwendung und Anregung, körperliche und/oder seelische Misshandlung, Medienabusus, intrafamiliäre Koflikte und Geschwisterkonflikten
Nach unserem Verständnis entspricht diese Beschreibung dem umweltbedingten Ursachenanteil der meisten psychischen Störungen wie ADHS, Depressionen, Angststörungen, Borderline etc., die sämtlich entstehen können, indem umweltbedingte Ursachen, meist Stresserfahrungen in den ersten 6 Lebensjahren, eine bestehende genetische Disposition mittels epigentischer Veränderung dauerhaft manifestieren. Vorwiegend milieubedingte Verhaltensauffälligkeiten sind daher ungeeignet, eine eigenes Störungsbild zu definieren.
⇒ Wie ADHS entsteht: Gene oder Gene + Umwelt
⇒ Gene + frühkindlicher Stress als Ursache anderer psychischer Störungen
2.5.21. Oppositionelles Trotzverhalten (ODD)¶
ADHS sei insbesondere von Problemen mit der kognitiven Kontrolle gekennzeichnet, Oppositionelle Trotzstörung (ODD) dagegen von hohem Belohnungsstreben.
2.5.22. Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung (AVWS)¶
Englisch: Auditory processing disorders (APD)
AVWS ist ein eigenständiges Störungsbild (ICD-10: F80.20).
Prävalenz: 2 bis 3 %, Jungen 4 bis 6 %, Mädchen 1 bis 2 %
Selbst leise Töne und Geräusche werden normal gehört. Das periphere Gehör ist intakt.
Beeinträchtigt ist die Verarbeitung und Wahrnehmung des Gehörten.
Die Beeinträchtigung beruht nicht auf einer Intelligenzminderung. Nonverbale Intelligenz ist unbeeinträchtigt.
Funktionsdefiziten in der auditiven Informationsverarbeitung und Wahrnehmung:
- die korrekte auditive Wahrnehmung ist erschwert bis verunmöglicht - auditive Agnosie
-
neuronale Weiterleitung, Vorverarbeitung oder Verarbeitung akustischer oder sprachlicher Signale ist beeinträchtigt, z.B.:
- Lokalisation (Richtung und Entfernung der Schallquelle)
- Diskrimination (Unterscheiden von Zeit-, Frequenz- oder Intensitätsveränderungen)
- Selektion (Herausfiltern von Störgeräuschen)
- Dichotisches Hören (beidohriges Hören)
Folgen können Schwierigkeiten in schwierigen Hörsituationen sein, wie z.B.
- Sprache bei Störgeräuschen verstehen
- Sprache von mehreren gleichzeitigen Sprechern verstehen
Bei gleichzeitiger Beeinträchtigung der Unterscheidung von Tönen, Sprachlauten und Geräuschen (was häufig der Fall ist) können Lese- und Schreibschwierigkeiten entstehen.
Daher gilt AVWS als neurokognitives Risiko, insbesondere für schulisches Lernen.
Häufige Komorbiditäten von AVWS sind:
- Sprachentwicklungsstörungen
- umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten
- z.B. Lese-Rechtschreib-Störungen
- supramodale Aufmerksamkeitsprobleme (Aufmerksamkeitsstörungen)
- tiefgreifende Entwicklungsstörungen (z.B. ASS