6. Leitlinien zur Diagnostik
Die wichtigste Leitlinie zur ADHS-Diagnostik in Deutschland ist die Interdisziplinäre evidenz- und konsenzbasierte S3-Leitlinie “Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kinder-, Jugend- und Erwachsenenalter (AWMF 028045).
Leitlinien zur ADHS-Diagnostik empfehlen folgende diagnostische Vorgehensweise:1
Ergänzungen seitens ADxS sind kursiv gesetzt.
- 1. Psychiatrische Anamnese
- 2. Differentialdiagnose
- 3. Interview mit Eltern/Vertrauenspersonen
- 4. Bestehen der Symptome in der Kindheit
- 5. Standardisierte Erhebung von ADHS-Symptomen
- 6. Testpsychologische Leistungsdiagnostik
1. Psychiatrische Anamnese
Erhebung der individuellen Problemlage unter Einbezug komorbider Störungen, der Entwicklungsgeschichte des Betroffenen und dessen Familie.
2. Differentialdiagnose
2.1. Ausschluss organischer Ursachen
Parallel zur ADHS-Diagnostik sollte eine Differentialdiagnostik erfolgen, um sicherzustellen, dass Symptome nicht aus anderen dominierenden organischen Ursachen resultieren.
Mehr hierzu unter ⇒ Differentialdiagnostik bei ADHS
2.2. Ausschluss anderer psychischer Ursachen
Zur Differentialdiagnostik Depression siehe unter ⇒ Depression und Dysphorie bei ADHS
2.3. Ausschluss von Simulation / nichtmedizinischem Medikamentenmissbrauch
ADHS-Medikamente können als Drogen missbraucht (allerdings gibt es auf jedem Discoklo und hinter jedem Bahnhof für weniger Geld und Aufwand sehr viel besser als Droge wirkende Substanzen) oder zu diesem Zweck weiterverkauft werden (was nur Sinn macht, wenn die Kasse die Verschreibung bezahlt). Die Lebenszeit-Missbrauchsquote von ADHS-Stimulanzien beträgt in den USA 8,1 % und liegt damit deutlich hinter Schmerzmitteln (24,6%), Beruhigungsmitteln (15,6%) und Schlafmitteln (9,9%). Innerhalb der ADHS-Stimulanzien ergaben sich deutliche Unterschiede, die in Zweifelsfällen Lisdexamfetamin oder MPH-Ganztagesretards vorteilhaft erscheinen lassen (Missbrauchsfälle unter Erwachsenen je 100.000 Rezepten):2
Ritalin: 1,62
Adderall; 1,61
Adderall XR: 0,62
Concerta: 0,19
Lisdexamfetamin: 0.13
Dabei ist der Selbstbehandlungseffekt zu berücksichtigen. Unter Patienten von Suchtzentren finden sich bei ADHS-Reihenuntersuchungen 21 bis 23 % ADHS-Betroffene3, was bei einer ADHS-Erwachsenen-Bevölkerungsprävalenz von 2,5 bis 5 % einer 4,6 bis 9,2-fachen Prävalenz entspricht.
Daneben können Stimulanzen von Schülern oder Studenten in stressigen Prüfungsphasen missbraucht werden. Eine Studie ermittelte in den USA bei 4,3 % der 18- bis 25-jährigen und 1,3 % der 26- bis 49-jährigen eine nach Selbstauskunft medizinisch nicht indizierte Einnahme.4 Hiervon ist abzuziehen, dass viele Studenten, die für Prüfungen Stimulanzien missbrauchen, erhöhte ADHS-Symptome haben.567 Zudem können Examenszeiten schweren Stress bedeuten, der stressbedingt vorübergehend subklinische ADHS-Symptome verstärken oder auslösen kann.
Anders als ASRS 1.1. (der ohnehin nur zum Screening nutzbar ist), Brown Attention-Deficit Disorder Scale (BADDS), Wender Utah Rating Scale (WURS) und Barkley Adult ADHD Rating Scale (BAARS-IV) verfügt die Conners Adult Rating Scale (CAARS) über zwei eingebettete Validitätsindizes:8
- CAARS Infrequency Index (CII; Items, die von ADHS-Betroffenen wie Nichtbetroffenen nur selten angegeben werden)9
- Exaggeration Index (EI; kombiniert Items aus der CAARS mit Items aus der Skala für dissoziative Erfahrungen (DES), die von ADHS-Betroffenen nur selten angegeben werden10
- in Entwicklung: ADHS-Credibility-Index (ACI)11
Der (nicht zur Diagnostik validierte und nur einem Screening dienende) ADxS-Symptomtest und der ADxS-Fremdbewertungstest sind mit Redundanzen ausgestattet, die inkonsistente Angaben messen; ein Referenzwert wird genannt.
3. Interview mit Eltern/Vertrauenspersonen
Interviews zur retrospektiven und aktuellen Symptomatik und Einsatz standardisierter Beurteilungsskalen können helfen, die aktuelle Symptomatik und die Symptomatik in der Kindheit zu erfassen.
Der (nicht zur Diagnostik validierte und nur zum Screening dienende) ADxS-Symptomtest besitzt mit dem ADxS-Fremdbewertungstest einen identischen Frageaufbau (V5: 168 Fragen) und kann von beliebig vielen Dritten online ausgefüllt werden. Die Auswertungen für den Arzt machen transparent, welche Fragen und Antworten für welches Symptom scoren.
4. Bestehen der Symptome in der Kindheit
ADHS-Betroffene haben häufig ein schlechtes Langzeit-Gedächtnis und mithin nur wenig greifbare Erinnerungen an ihre Kindheit.
Die Kopfnoten / Verhaltensnoten / individuellen Beurteilungen in Grundschulzeugnissen sind oft eine Hilfe, um das Verhalten Betroffener in der Kindheit zu rekonstruieren. Ein Ausschluss einer Diagnose alleine aufgrund unauffälliger oder gar nur fehlender Grundschulzeugnisse ist keinesfalls angezeigt.
Uns liegen erschreckende Berichte vor, wonach manche Ärzte in solchen Fällen die Diagnose verweigert haben. Das ist natürlich in keiner Weise akzeptabel:
- DSM und ICD verlangen erste Symptome bis 12 Jahre, was außerhalb des Grundschulalters liegt. Barkley geht von einem möglichen ersten Onset noch bis zum Abschluss der Entwicklung des Gehirns aus, was bis zum Alter von 25 erfolgt und empfiehlt deshalb, das Kriterium entsprechend weit auszulegen.
- Manche Betroffene haben ihre Grundschulzeugnisse nicht mehr.
- Eine hohe Intelligenz oder eine hohe kompensatorische Leistungsbereitschaft können Betroffene in der Grundschule unauffällig wirken lassen.
- Mädchen sind zudem angepasster und fallen auch als Betroffene oft nicht auf. Frauen aufgrund der abweichenden Geschlechtshormonentwicklung psychische Probleme häufig erst in einem späteren Alter entwickeln als Jungen. Mehr hierzu unter Geschlechtsunterschiede bei ADHS.
- Die derzeitigen Kriterien von DSM und ICD überrepräsentieren unserer Auffassung nach immer noch ein klassisches Jungen-ADHS mit Hyperaktivität.
- Zudem haben manche Lehrer ihre Einschätzungen eher freundlich formuliert. Kein Lehrer war sich zur damaligen Zeit bewusst, dass seine Beurteilung irgendwann als Diagnosemaßstab verwendet werden würde.
Als Alternative zu Grundschulzeugnissen können auch Berichte von Eltern, Verwandten, Schulfreunden oder Abizeitungen (die oft sehr treffende Charakterisierungen der Personen durch Mitschüler beinhalten) helfen.
Das Fehlen von Grundschulzeugnissen darf niemals der (alleinige) Grund für die Verweigerung einer Diagnose sein, da niemand verpflichtet ist, diese Zeugnisse aufzubewahren. Entsprechend vorsichtig sollten Grundschulzeugnisse betrachtet werden. Sie sind im positiven wie im negativen Falle ein Hinweis, der zu einem Gesamtbild beiträgt, aber keinesfalls ein zwingend erforderlicher “Beweis”.
5. Standardisierte Erhebung von ADHS-Symptomen
Einsatz standardisierter Verfahren zur ausführlichen Erhebung relevanter Symptome und deren Ausprägung.
6. Testpsychologische Leistungsdiagnostik
Einsatz von Verfahren zur Bestimmung des allgemeinen kognitiven Leistungsniveaus.
Zur Warnung hiervor siehe oben.
Schmidt, Petermann: ADHS über die Lebensspanne – Symptome und neue diagnostische Ansätze Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie, 59 (3), 2011, 227–238, Seite 229 ↥
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Novak SP, Kroutil LA, Williams RL, Van Brunt DL (2007): The nonmedical use of prescription ADHD medications: results from a national Internet panel. Subst Abuse Treat Prev Policy. 2007 Oct 31;2:32. doi: 10.1186/1747-597X-2-32. PMID: 17974020; PMCID: PMC2211747. n = 4.297 ↥
Wilens TE, Adler LA, Adams J, Sgambati S, Rotrosen J, Sawtelle R, Utzinger L, Fusillo S (2008): Misuse and diversion of stimulants prescribed for ADHD: a systematic review of the literature. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry. 2008 Jan;47(1):21-31. doi: 10.1097/chi.0b013e31815a56f1. PMID: 18174822. REVIEW ↥
Caron C, Dondaine T, Bastien A, Chérot N, Deheul S, Gautier S, Cottencin O, Moreau-Crépeaux S, Bordet R, Carton L (2023): Could psychostimulant drug use among university students be related to ADHD symptoms? A preliminary study. Psychiatry Res. 2023 Nov 25;331:115630. doi: 10.1016/j.psychres.2023.115630. PMID: 38043409. n = 4.431 ↥
Hajduk M, Tiedemann E, Romanos M, Simmenroth A (2024): Neuroenhancement and mental health in students from four faculties - a cross-sectional questionnaire study. GMS J Med Educ. 2024 Feb 15;41(1):Doc9. doi: 10.3205/zma001664. PMID: 38504866; PMCID: PMC10946206. n = 5.564 ↥
Grandjean M, Hochman S, Mukherjee R, Cohen Kadosh R (2025): Malingering in ADHD behavioral rating scales: recommendations for research contexts. Front Psychiatry. 2025 Jan 24;16:1532807. doi: 10.3389/fpsyt.2025.1532807. PMID: 39967578; PMCID: PMC11833149. ↥
Cook CM, Bolinger E, Suhr J (2016): Further Validation of the Conner’s Adult Attention Deficit/Hyperactivity Rating Scale Infrequency Index (CII) for Detection of Non-Credible Report of Attention Deficit/Hyperactivity Disorder Symptoms. Arch Clin Neuropsychol. 2016 Jun;31(4):358-64. doi: 10.1093/arclin/acw015. PMID: 27193367. ↥
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Becke M, Tucha L, Weisbrod M, Aschenbrenner S, Tucha O, Fuermaier ABM (2021): Non-credible symptom report in the clinical evaluation of adult ADHD: development and initial validation of a new validity index embedded in the Conners’ adult ADHD rating scales. J Neural Transm (Vienna). 2021 Jul;128(7):1045-1063. doi: 10.1007/s00702-021-02318-y. PMID: 33651237; PMCID: PMC8295107. ↥