Essstörungen und Übergewicht sind bei ADHS häufig.
Kinder mit ADHS und ebenso Kinder mit einem subklinischen ADHS (ADHS, das zu schwer ist für eine Diagnose), haben einen erhöhten Körperfettanteil.
1. ADHS und Übergewicht/Adipositas/Fettsucht¶
1.1. ADHS bei Adipositas doppelt so häufig (Kinder + 20 %, Erwachsene + 55 %)¶
Die Prävalenz von ADHS ist bei Menschen mit extremem Übergewicht höher als in der Gesamtbevölkerung. In einer äußerst lang angelegten Dauerstudie über 33 Jahre wurde festgestellt, dass 41,4 % aller Männer, die als Kind an ADHS-C litten, als Erwachsene massives Übergewicht entwickelten, während nur 21,6 % derjenigen ohne eine ADHS-Diagnose in der Kindheit betroffen waren. Die Verdoppelung der Häufigkeit von Fettsucht bei ADHS-Betroffenen ist (bei allerdings extrem unterschiedlichem Ausgangsniveau) in den USA von 21,6 % ohne ADHS auf 41,4 % mit ADHS ebenso wie in Deutschland von 10,2 % ohne ADHS auf 22,1 % mit ADHS gegeben.
Eine israelische Kohortenstudie fand Adipositas bei Jugendlichen mit schwerem ADHS mit 13,5 % fast doppelt so häufig wie bei Nichtbetroffenen und bei leichtem ADHS etwa 30 % häufiger als bei Nichtbetroffenen.
Eine Metastudie von 42 Studien mit n = 728.136 Teilnehmern fand:
Fettleibigkeit erhöht das ADHS-Risiko bei Kindern um 20 % (OR = 1,20) und bei Erwachsenen um 55 % (OR = 1,55)
ADHS erhöht das Risiko von Adipositas bei Kindern um 40 % (10,3 % ggüber 7,4 %) und bei Erwachsenen um 70 % (28,2 % ggüber 16,4 %)
Eine Studie an n = 450.000 Europäern fand, dass Einzel-Nukleotid-Polymorphismen, die Übergewicht verursachen, kausal auch das Risiko für ADHS, Depression und bipolare Störung erhöhen.
ADHS ist ein erheblicher Risikofaktor für das Entstehen von Fettsucht. Impulsivität bei ADHS und erhöhter BMI teilen sich genetische und neurophysiologische Korrelate. ADHS, Alkoholabhängigkeit, Schlaflosigkeit und starkes Rauchen korrelieren mit einem erhöhten Körperfettanteil.
Aufmerksamkeitsprobleme und Hyperaktivität korrelierten positiv mit dem Ansprechen auf Nahrungsmittel, emotionalem Überessen, dem Wunsch zu trinken und einer Verlangsamung des Essens. Aufmerksamkeitsprobleme verringerten den Genuss am Essen. Umgekehrt scheint das Essverhalten nicht für ADHS ursächlich zu sein. Normales Übergewicht (unterhalb einer Fettsucht/Adipositas) soll die Wahrscheinlichkeit einer ADHS ebenfalls nicht erhöhen.
Eine langjährige Kohortenstudie in den USA fand eine lineare Korrelation zwischen der Anzahl der ADHS-Symptome und den Faktoren Taillenumfang, BMI, Fettleibigkeit, diastolischem Blutdruck und systolischem Blutdruck. Eine israelische Studie deutet ebenfalls hierauf hin.
Die Komorbidität von ADHS betrug in einer Untersuchung stationär behandelter extrem übergewichtiger Kinder 58 %.
Unter 155 erwachsenen Frauen in Brasilien mit einem BMI > 39 wurde eine ADHS-Quote von 28,3 % gefunden. Binge-Eating, Bulimie und Depressionen waren ebenfalls überdurchschnittlich häufig. Die ADHS-Wahrscheinlichkeit war damit gegenüber der bei Erwachsenen erwarteten Prävalenz von 4,4 % um das 6,4-fache erhöht.
Ebenso liegt der Body-Mass-Index von ADHS-Betroffenen über dem Durchschnitt.
Eine Minderheit an Studien fand keinen Zusammenhang zwischen ADHS und BMI. Eine Studie fand keine Assoziation von ADHS mit dem BMI im Alter von 9 oder 13 Jahren. Kinder mit ADHS im Alter von 9 Jahren waren jedoch signifikant häufiger übergewichtig / fettleibig als Kinder ohne ADHS. Dies sei jedoch nicht auf ADHS, sondern auf andere kindliche und elterliche Faktoren wie weibliches Geschlecht, wenig Bewegung, übergewichtige / fettleibige Eltern und vorgeburtliches Rauchen während der Schwangerschaft zurückzuführen gewesen. Eine kleinere Studie fand bei 76 Jugendlichen keine Überschneidungen zwischen Fettsucht und ADHS oder Autismusspektrumsstörungen. Eine weitere Studie fand keine Korrelation zwischen ADHS und hohem BMI, jedoch zwischen ungesünderen Essgewohnheiten und ADHS bei Jugendlichen.
Bei Betroffenen von Essstörungen fand eine Metaanalyse eine ADHS-Prävalenz zwischen 1,6 % und 18 %. Komorbides ADHS war beim AN-Binge-Eating / Purging-Subtyp und im Bulimie-Subtyp häufiger als beim restriktiven Anorexie-Subtyp.
Bei ADHS-Betroffenen fand die Metastudie eine Essstörungen-Lebenszeit-Prävalenz zwischen Null und 21,8 % bei Frauen mit ADHS.
Massives Übergewicht ist zugleich assoziiert mit Schlaf-Apnoe, verkürztem Schlaf und anderen Schlafproblemen.
Umgekehrt sind Schlafprobleme die häufigste Komorbidität bei ADHS. Siehe hierzu Schlafprobleme bei ADHS sowie Komorbidität bei ADHS, dort unter Schlafproblemen.
Bei Erwachsenen ohne ADHS-Diagnose korreliert die Tagesmüdigkeit mit dem Maß der ADHS-Symptomatik.
1.2. ADHS-Behandlung wirkt gegen Übergewicht¶
Eine ADHS-Behandlung kann bei massiv übergewichtigen Patienten überraschende Erfolge bei der Gewichtsreduktion nach sich ziehen. Die ADHS-positiv diagnostizierten fettsüchtigen Patienten verloren unter typischer ADHS-Medikation über 12 % Gewicht im Jahr.
Zum Vergleich: eine Therapie gegen Fettsucht ist nach bisherigem Standard erfolgreich, wenn die Gewichtszunahme nicht höher als 5 % pro Jahr liegt.
Weitere Untersuchungen bereichten ebenfalls von einem Rückgang eines überhöhten BMI durch eine ADHS-Behandlung bei ADHS-Betroffenen.
1.3. Magenverkleinerung bei ADHS-Symptomen weniger wirksam?¶
Eine Studie fand eine verringerte Gewichtsabnahme nach einer Magenverkleinerung bei denjenigen Betroffenen mit emotionaler Dysregulation, einem Kernsymptom von ADHS.
1.4. Übergewicht und Suchtverhalten¶
Etwa die Hälfte aller übergewichtiger Menschen, die eine Magenverkleinerung erhalten haben, entwickeln danach eine andere Sucht. Dies belegt eindrucksvoll, dass Übergewicht eine Suchtfolge ist.
Dass ADHS bewirkt eine massive Störung des Belohnungssystems, mit der Folge, dass Belohnungen, die weiter entfernt sind, im Vergleich zu Nichtbetroffenen deutlich weniger interessant sind, ist bekannt. Essen kann diese Sofortbefriedigung verschaffen.
Bei ADHS ist das Suchtpotential insgesamt erheblich erhöht. Dies betrifft legale Suchtstoffe wie Rauchen, Koffein, Alkohol oder Essen ebenso wie illegale Suchtstoffe wie Marihuana, Amphetamine oder Kokain.
Nikotin und Koffein sind ebenso Stimulanzien wie die typischen ADHS-Medikamente.
Amphetamine, Kokain und Marihuana sind – in spezifischer Form – als Medikamente wirksam.
Der Unterschied zwischen Suchtstoff und Medikament ist, dass Suchtstoffe (auch Nikotin) eine schnelle Anflutung hat und eine sehr hohe Zahl der jeweiligen Rezeptoren adressiert, während Medikamente langsam ansteigen und abfallen, nur einen kleinen Teil der Rezeptoren belegen und deshalb keine rauschartigen Zustände verursachen. Wie bei jedem Stoff gilt; die Dosis macht das Gift.
2. ADHS und Essstörungen¶
Bei Mädchen mit ADHS treten Essstörungen 3,6-mal so häufig auf wie bei Nichtbetroffenen.
Leptin ist ein vom Fettgewebe produziertes Adipokin, das als Hormon an der Steuerung von Hunger- und Sättigungsgefühl beteiligt ist.
Bei Kindern mit ADHS fand sich ein signifikant verringerter Serum-Leptinspiegel, unabhängig von einer MPH-Einnahme.
Ghrelin (Growth Hormone Release Inducing) ist ein appetitanregendes Peptid, das in der Magenschleimhaut und der Bauchspeicheldrüse produziert wird.
Bei Kindern mit ADHS korrelierte der Ghrelin-Serumspiegel mit der auditiven Aufmerksamkeit und stieg dosisabhängig mit MPH-Gabe an, war bei MPH-Nebenwirkungen jedoch verringert.
2.1. Binge-Eating doppelt so häufig¶
Essstörungen wie Binge-Eating (sehr grob: Essattacken ohne Erbrechen) stehen ebenfalls im Verdacht, mit ADHS zu korrelieren und zu Gewichtsproblemen beizutragen.
Bei adipösen Patienten (BMI > 30) verdoppelt ADHS die Wahrscheinlichkeit, dass Binge-Eating hinzutritt und erhöht die Wahrscheinlichkeiten weiterer Essstörungen.
Unter 150 erwachsenen Frauen mit einem BMI über 39 wurde eine ADHS-Quote von 28,2 % gefunden. Binge-Eating, Bulimie und Depressionen waren ebenfalls überdurchschnittlich häufig.
2.2. Bulimie nervosa bei Frauen mit ADHS 6- bis 8-mal so häufig¶
Bulimie nervosa (sehr grob: Essattacken mit Erbrechen) ist bei 11 % bis 12 % der erwachsenen Frauen mit ADHS (nach DSM-III-R Kriterien) gegenüber rund 1 bis 3 % der Frauen ohne ADHS zu finden. Bei Männern und Kindern ergeben sich keine Unterschiede. Ginge man von 1,5 % Prävalenz von Bulimie nervosa aus, ergäbe sich eine Erhöhung der Häufigkeit für ADHS-betroffene Frauen auf das 8-fache.
Eine Metastudie berichtete, dass fast alle Studien eine positive Wirkung von Stimulanzien auf das Essverhalten bei Bulimie berichteten.
2.3. Magersucht (Anorexie) bei ADHS 2,2-mal so häufig¶
Die Wahrscheinlichkeit für ADHS-betroffene Mädchen und Frauen, eine Magersucht/Anorexie (sehr grob: Erbrechen ohne Essattacken) zu erleiden, ist “lediglich” 2,2-mal so häufig wie für Mädchen und Frauen ohne ADHS.
2.4. Zwanghaftes Grazing (Naschen) erhöht ADHS-Risiko um das 8-fache¶
Grazing ist das unstrukturierte, wiederholte Essen kleiner Mengen von Lebensmitteln über einen längeren Zeitraum außerhalb geplanter Mahlzeiten und Zwischenmahlzeiten und/oder nicht als Reaktion auf Hunger- oder Sättigungsgefühle. Grazing kennt zwei Subtypen:
- zwanghaftes Grazing
- Empfinden, dass man nicht widerstehen oder mit dem Grazing aufhören kann
- Bevölkerungsprävalenz 10,2 %
-
ADHS-Prävalenz unter den Betroffenen ca. + 800 % (OR 8,94)
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korreliert mit
- stärkerer Psychopathologie der Essstörung
- erhöhtem Leidensdruck
- geringerer psychischer Lebensqualität
- geringerem Behandlungserfolg bei Patienten mit hohem Körpergewicht
- nicht zwanghafter Subtyp
- d. h. wiederholtes, abgelenktes Essen
- Bevölkerungsprävalenz 38 % bis 90 %
3. ADHS und Diabetes¶
Von 677.587 deutschen Kindern und Jugendlichen erhielten 16.833 eine ADHS Diagnose (2,5 %), während 3668 gegen Typ 1 Diabetes Mellitus mit Insulin behandelt wurden (0,05 %). In der Untergruppe der Diabetes Betroffenen hatten 153 Kinder (4,2 %) zusätzlich eine ADHS Diagnose. Dies deutet darauf hin, dass ADHS-Betroffene eine stark erhöhte Prävalenz für Diabetes Typ 1 haben und umgekehrt.
4. Cortisol, Stoffwechsel und Körperfett¶
Glucocorticoide (wie z.B. Cortisol) haben durch die Beeinflussung der Gluconeogenese eine zentrale Bedeutung für die Regulation des Kohlehydratstoffwechsels.
Glucocorticoide initiieren und regulieren ausserdem eine Vielzahl von Verdauungsenzymen, die Expression membranständiger Transporterproteine, sowie Proteine, die an der Gluconeogenese maßgeblich beteiligt sind.
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Cortisol erhöht den Erfolg von angenehmen oder zwanghaften Aktivitäten (Einnahme von Saccharose, Fett und Drogen oder Radrennen). Dies motiviert die Einnahme von „Komfortnahrung“.
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Cortisol erhöhe systemisch die Fettdepots im Bauchraum. Dies bewirkt
- eine Hemmung von Katecholaminen im Hirnstamm und
- eine Hemmung der CRH-Expression im Hypothalamus, was in der Folge ACTH hemmt
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Cortisol wirkt mittels Insulin auf das Fettgewebe
Mögliche Folgen:
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viszerale Adipositas
- Insulinresistenz
- Dyslipidämie
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Cortisol erhöht die adrenalininduzierte Lipolyse (Fettspaltung, Fettverdauung).
Die Beeinträchtigung kann durch verringerte ACTH-Spiegel noch verstärkt werden.
Möglicherweise ist diese Korrelation bei stark übergewichtigen Menschen umgekehrt (siehe unten).
- Während chronischer Stress und hohe Glucocorticoide bei Ratten die Körpergewichtszunahme erhöhen, bewirkt dies bei Menschen entweder eine erhöhte Nahrungszufuhr und Gewichtszunahme oder eine verminderte Nahrungsaufnahme und Gewichtsabnahme.
- Mehrere Studien zeigen eine Korrelation zwischen der Cortisolstressantwort und dem Taille-Hüft-Verhältnis, sodass ein niedrige Cortisolstressantwort mit einem niedrigen Taille-Hüft-Verhältnis einhergeht (wenig ausgeprägte Taille) währen eine hohe Cortisolstressantwort mit einem hohen Taille-Hüftverhältnis verbunden ist (ausgeprägte Taille).
- Bei der Typ-A-Persönlichkeit häufiger auftretende Anomalien des Fettstoffwechsels (Hypertriglyceridämie) können durch ACTH-Gabe, nicht aber durch Cortisol-Gabe beseitigt werden.
Die beschriebene ACTH-Wirkung würde sich mit der diesseitigen Hypothese einer Unterreaktivität der HPA-Achse bei Typ-A decken.
Bei ADHS-Betroffenen vom Typ A (dann: ADHS-HI = mit Hyperaktivität) könnte ein genetische Veranlagung oder dauerhafter Stress
→ zu einer lang anhaltenden erhöhten CRH-Ausschüttung geführt haben,
→ was eine CRH-Rezeptor-Downregulation auslöst,
→ die eine Unteraktivierung der Hypophyse bewirkt,
→ was eine verringerte ACTH-Ausschüttung auslöst,
→ was eine verringerte Aktivität der Nebenniere verursacht,
→ was einen verringerten Ausstoß von Cortisol zur Folge hat,
→ weshalb bei einer Aktivierung der HPA-Achse am Ende einer Stressreaktion lediglich die MR-, nicht aber die GR-Rezeptoren adressiert werden,
→ was dazu führt, dass die HPA-Achse nicht sauber abgeschaltet wird.
- Der Noradrenalinspiegel im OFC und in der Amygdala korreliert bei gesunden Menschen mit der Aktivierung der HPA-Achse. Bei stark übergewichtigen Menschen ist diese Korrelation dagegen invertiert.
Die endokrinen Stressantworten von Noradrenalin und Cortisol verlaufen parallel. Bei ADHS-HI (mit Hyperaktivität) ist also nicht nur die Cortisolstressantwort sondern auch die Noradrenalinstressantwort verringert.
- Fettleibigkeit ist gekennzeichnet durch hohen oxidativen Stress und Entzündungen. Entzündungen werden von Cortisol gehemmt. Eine geringe Cortisolstressantwort bewirkt eine verminderte Entzündungshemmung.
5. Verbindungen zwischen ADHS und Essstörungen¶
5.1. Emotionale Dysregulation und Impulsivität¶
Eine wichtige Verknüpfung zwischen Essstörungen (insbesondere Binge-Eating) und ADHS scheinen die Symptome der emotionalen Dysregulation und der Impulsivität zu sein.
5.2. Dopamin¶
ADHS wie Fettsucht sind von Abweichungen im Dopaminhaushalt gekennzeichnet. Während bei Frauen gestörtes Essverhalten mit einem erhöhten Plasmadopaminspiegel korrelierte, war der Blutdopaminspiegel bei Männern mit Essstörungen verringert.