Diagnostische ADHS-Symptome nach DSM, ICD, Wender-Utah u.a.
Autor: Ulrich Brennecke
Review 10/2024: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
Die nachfolgend aufgelisteten Symptomkataloge sind alternative Klassifikationen von ADHS. Sie dürfen nicht schematisch angewendet werden, was sich bereits aus der Tatsache ergibt, dass mehrere alternative Symptomlisten bestehen.
Es handelt sich nicht um Behandlungsleitfäden.
Das DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) ist ein erstmals 1952 (damals entstanden als Alternative zu ICD 6)1 herausgegebener Katalog der American Psychiatric Association (APA), der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft. Die 5. Ausgabe, DSM 5, erschien im Mai 2013. Die überarbeitete Fassung DSM-5-TR vom März 2022 veränderte die ADHS-Kriterien nicht und ergänzte im Übrigen nur einige wenige Sätze und Klarstellungen.23
ICD ist der Katalog der World Health Organisation (WHO), der internationalen Gesundheitsorganisation. Aktuell ist ICD 10. Das im Januar 2022 in Kraft getretene ICD 11 lag im September 2024 noch nicht in deutscher Übersetzung vor.4
Der DSM IV nahm dabei die Katalognummern des ICD 9 zu psychiatrischen Krankheiten auf und ist insoweit ein eigener Teil des ICD. DSM und ICD entstanden aus dem Bedürfnis, statistisch zu erfassen, welche Krankheiten wie häufig auftreten.
DSM und ICD sind daher nicht wirklich Instrumente zur Diagnose von Krankheiten, sondern dienen mehr der statistischen Erfassung und Einordnung von Diagnosen. Insbesondere gegenüber Krankenkassen sind derartige statistische Einordnungen von hoher Bedeutung. In Bezug auf die medizinische Diagnose aus dem Blickwinkel einer optimalen Behandlung darf ihnen dagegen nicht die gleiche Bedeutung zugemessen werden.
ACHTUNG: DSM und ICD benennen lediglich die diagnoserelevanten Symptome. Neben den diagnoserelevanten Symptomen gibt es noch weitere Symptome, die häufig originär aus einer Störung (hier: aus ADHS) resultieren, die aber auch aus anderen Störungsbildern entstehen können, sodass sie weniger gut geeignet sind, um damit Störungsbilder unterscheiden zu können.
Behandlungsrelevant ist indes die Gesamtheit aller Symptome. Bei der Behandlung allein auf die Symptome von DSM oder ICD abzustellen, wäre daher ein ärztlicher bzw. therapeutischer Kunstfehler.
⇒ Symptomgesamtliste nach Erscheinungsformen
- 1. DSM
- 2. ICD 10
- 3. ICD 11
- 4. Wender-Utah-Kriterien für Erwachsene
- 5. Erwachsenenkriterien nach Hallowell / Ratey
- 6. Grenzen von DSM und ICD
1. DSM
Während DSM-IV ADHS noch in die Gruppe der Verhaltensstörungen einordnete, hat DSM 5 ADHS der Gruppe der neurologischen Entwicklungsstörungen (Neurodevelopmental Disorders) zugeordnet. Bei DSM 5 wurde weiter das Alter, bis zu dem erste Symptome aufgetreten sein müssen, auf 12 Jahre angehoben, die Anzahl der erforderlichen Symptome ab dem Alter von 17 Jahren von 6 auf 5 verringert und ASS gilt nun nicht mehr als Ausschlussdiagnose. Anstelle des Begriffs der Subtypen trat der Begriff der Präsentationsformen (Erscheinungsformen). Weiter betont DSM 5 stärker, dass die Symptome in verschiedenen Lebensbereichen auftreten müssen und dass mehrere (Fremd-)Beurteiler einbezogen werden sollten.
1.1. DSM 5
Unaufmerksamkeit
- Achtet oft nicht genau auf Details oder macht Flüchtigkeitsfehler bei Schulaufgaben, bei der Arbeit oder bei anderen Tätigkeiten (z.B. übersieht oder verpasst Details, Arbeit ist ungenau).
- Hat oft Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder Spielaktivitäten aufrechtzuerhalten (z.B. hat Schwierigkeiten, bei Vorträgen, Gesprächen oder längeren Leseaufgaben konzentriert zu bleiben).
- Scheint oft nicht zuzuhören, wenn direkt angesprochen wird (z. B. scheint mit den Gedanken woanders zu sein, auch wenn keine offensichtliche Ablenkung vorliegt). .
- Befolgt Anweisungen oft nicht und bringt Schularbeiten, Hausarbeiten oder Aufgaben am Arbeitsplatz nicht zu Ende (z.B. beginnt Aufgaben, verliert aber schnell die Konzentration und lässt sich leicht ablenken).
- Hat oft Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren (z.B. Schwierigkeiten, aufeinanderfolgende Aufgaben zu bewältigen; Schwierigkeiten, Materialien und Gegenstände in Ordnung zu halten; unordentliche, unorganisierte Arbeit; schlechtes Zeitmanagement; Nichteinhaltung von Fristen).
- Vermeidet, mag nicht oder zögert oft, Aufgaben zu übernehmen, die anhaltende geistige Anstrengung erfordern (z.B. Schularbeiten oder Hausaufgaben; bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen das Erstellen von Berichten, Ausfüllen von Formularen, Durchsehen langer Dokumente)
- Verliert häufig Dinge, die für Aufgaben oder Aktivitäten notwendig sind (z.B. Schulmaterialien, Stifte, Bücher, Werkzeuge, Geldbörsen, Schlüssel, Unterlagen, Brillen, Mobiltelefone).
- Lässt sich häufig leicht durch äußere Reize ablenken (bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen können dies auch Gedanken sein, die nichts mit der Aufgabe zu tun haben).
- Ist oft vergesslich bei alltäglichen Aktivitäten (z.B. Hausarbeit, Besorgungen machen; bei älteren Jugendlichen und Erwachsenen: Rückrufe tätigen, Rechnungen bezahlen, Termine einhalten).
Hyperaktivität/Impulsivität
- Zappelt oft mit Händen oder Füßen oder windet sich auf seinem Sitz
- Verlässt oft den Sitzplatz in Situationen, in denen man erwartet, dass man sitzen bleibt (z.B. verlässt den Platz im Klassenzimmer, im Büro oder an einem anderen Arbeitsplatz oder in anderen Situationen, in denen man an seinem Platz bleiben muss)
- Läuft oft herum oder klettert in Situationen, in denen dies unangemessen ist. (Bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann sich dies auf ein Gefühl der Unruhe beschränken.)
- Oftmals unfähig, ruhig zu spielen oder Freizeitaktivitäten nachzugehen
- Oftmals „unterwegs” und verhält sich, als würde es „von einem Motor angetrieben” (z.B. unfähig, länger still zu sitzen, wie in Restaurants oder Besprechungen; kann von anderen als unruhig oder schwer zu begleiten empfunden werden)
- Spricht oft übermäßig viel
- Unterbricht oft andere, bevor die Frage gestellt wurde (z. B. beendet die Sätze anderer; kann in Gesprächen nicht warten, bis man selbst an der Reihe ist)
- Hat oft Schwierigkeiten, zu warten, bis man selbst an der Reihe ist (z. B. beim Anstehen)
- Unterbricht oder stört oft andere (z. B. mischt sich in Gespräche, Spiele oder Aktivitäten ein; beginnt möglicherweise, die Sachen anderer zu benutzen, ohne zu fragen oder um Erlaubnis zu bitten; bei Jugendlichen und Erwachsenen kann sich dies auf das Gefühl der Unruhe oder der Schwierigkeit, mit anderen Schritt zu halten, beschränken)
- Unterbricht oder stört andere häufig (z. B. mischt sich in Gespräche, Spiele oder Aktivitäten ein; beginnt möglicherweise, die Sachen anderer zu benutzen, ohne zu fragen oder um Erlaubnis zu bitten; bei Jugendlichen und Erwachsenen kann dies dazu führen, dass sie sich in die Aktivitäten anderer einmischen oder diese übernehmen).
Eine ADHS-Diagnose ist nur dann möglich, wenn zudem alle allgemeinen und speziellen Beobachtungen vorliegen:
Notwendige allgemeine Beobachtungen
- Es handelt sich um ein durchgehendes Muster von Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität/Impulsivität, welches das Funktionsniveau oder die Entwicklung beeinträchtigt
- Mehr als ein Symptom von Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität/Impulsivität trat bereits vor dem Alter von 12 Jahren auf
- Barkley empfiehlt, diese Anforderung zu ignorieren und berichtet aus seinen Longitudinalstudien, bei denen Betroffene teils noch im Alter zwischen 18 und 24 erstmals ADHS-Symptome zeigten.5 Wenn der Durchschnitt der Betroffenen im Alter von 12 Jahren ADHS-Symptome entwickelt, bedeutet dies, dass die Hälfte der Betroffenen die ersten ADHS-Symptome erst nach diesem Alter zeigt.6 Auch nach unserer Beobachtung gibt es viele Betroffene, bei denen die Symptome erstmals im Erwachsenenalter auffällig wurden (besonders bei Frauen auch noch nach dem 30. Lebensjahr).
- Mehrere Symptome von Unaufmerksamkeit oder Hyperaktivität/Impulsivität bestehen in zwei oder mehr verschiedenen Lebensbereichen (z.B. zu Hause, in der Schule oder bei der Arbeit; mit Freunden oder Verwandten; bei anderen Aktivitäten)
- Es sind deutliche Hinweise dafür vorhanden, dass sich die Symptome störend auf die Qualität des sozialen, schulischen oder beruflichen Funktionsniveaus auswirken oder dieses reduzieren
- Die Symptome können nicht durch eine andere psychische Störung besser erklärt werden (z. B. Schizophrenie oder psychotische Störung, affektive Störung, Angststörung, dissoziative Störung, Persönlichkeitsstörung, Substanzintoxikation oder -entzug)
- Barkley weist darauf hin, dass diese Störungsbilder häufig komorbid zu ADHS auftreten.7
Notwendige spezielle Beobachtungen
- Für Unaufmerksamkeit und für Hyperaktivität/Impulsivität müssen jeweils mindestens vorliegen:
- für Kinder und Jugendliche (bis 16 Jahren): sechs von neun Symptomen
- für Jugendliche (ab 17 Jahren) und Erwachsene: fünf von neun Symptomen .
(siehe hierzu Anmerkungen)
- Die Symptome sind während der letzten 6 Monate beständig in einem mit dem Entwicklungsstand nicht zu vereinbarenden Ausmaß aufgetreten
- Die Symptome wirken sich direkt negativ auf soziale und schulische oder berufliche Aktivitäten aus
- Die Symptome sind nicht ausschließlich ein Ausdruck von Trotz, Feindseligkeit oder Verständnisschwierigkeiten.
Stimmungsstabilität und emotionale Fehlregulierung werden von DSM 5 als assoziierte Merkmale betrachtet, die die Diagnose unterstützen.8
Anmerkungen:
Der aktualisierte europäische Konsens zur Behandlung und Diagnose von ADHS von 2018 weist darauf hin, dass inzwischen Studien vorliegen, wonach ein cut-off von 4 Symptomen bei Erwachsenen für eine korrekte ADHS-Diagnose richtiger wäre.8910
1.2. DSM IV (veraltet, betraf nur Kinder)
- Mindestens 6 Symptome
- aus dem Bereich Unaufmerksamkeit
oder - dem Bereich Hyperaktivität/Impulsivität
oder - aus beiden Bereichen zusammen.
- aus dem Bereich Unaufmerksamkeit
- Einige der Symptome vor dem 7. Lebensjahr.
- Aufgrund der Symptomatik Beeinträchtigungen in mindestens zwei Lebensbereichen.
- Symptome nicht besser durch eine andere psychische Störung oder eine medizinische Erkrankung erklärbar.
Unaufmerksamkeit
- Beachtet häufig Einzelheiten nicht oder macht Flüchtigkeitsfehler
- Hat oft Schwierigkeiten, die Aufmerksamkeit bei Aufgaben oder beim Spielen aufrechtzuerhalten
- Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere sie/ihn ansprechen
- Hält häufig Anweisungen anderer nicht durch und kann Arbeiten nicht zu Ende bringen
- Hat häufig Schwierigkeiten, Aufgaben zu organisieren
- Hat eine Abneigung gegen Aufgaben, die länger dauernde geistige Anstrengung erfordern
- Verliert häufig Gegenstände, der sie/er für Aktivitäten benötigt
- Lässt sich öfter durch äußere Reize ablenken
- Ist bei Alltagsaktivitäten häufig vergesslich
Hyperaktivität
- Zappelt häufig mit Händen oder Füßen und rutscht auf dem Stuhl herum
- Steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen sitzen bleiben erwartet wird, häufig auf
- Läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben)
- Hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen
- Ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre er/sie getrieben
- Redet häufig übermäßig viel
Impulsivität
- Platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist.
- Kann nur schwer warten, bis sie/er an der Reihe ist.
- Unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder Spiele anderer hinein).
1.3. ADHS und Subtypen im DSM
- DSM III-R unterschied nicht nach Subtypen.
- DSM IV unterschied ADHS nach Subtypen.
- DSM V (Mai 2013) hat die Unterteilung in Subtypen wieder aufgegeben, da diese unterschiedliche ADHS-Arten suggerieren. Es sind jedoch nur unterschiedliche Erscheinungsformen (Präsentationsformen).
- ICD unterscheidet ebenfalls nicht nach Subtypen.
Nach diesseitiger Auffassung ist eine Unterscheidung nach Subtypen für die Diagnose und das Verständnis von ADHS essentiell; für die Behandlung sind die Unterschiede dagegen zumindest derzeit noch nicht durchgreifend. Wir betrachten die Subtypen mit Hyperaktivität/Impulsivität (ADHS-HI, ADHS-C) und Träumerle, überwiegend unaufmerksam (ADHS-I) als unterschiedliche Symptomatik ein und derselben zugrunde liegenden Störung, je nach der individueller Stressphänotypik (der Art, wie Stress sich manifestiert) der Betroffenen.
SCT, Sluggish Cognitive Tempo wird heute als eigenständiges Störungsbild begriffen, auch wenn dieses eine sehr hohe Überdeckung mit ADHS aufweist.
Da sich Aufmerksamkeitssymptome beim Menschen entwicklungsbedingt frühestens im Alter von 6 bis 7 Jahren und spätestens im Alter von 14 bis 15 Jahren feststellen lassen, ist ADHS-C (Hyperaktivität/Impulsivität + Aufmerksamkeitsprobleme) häufig lediglich die alters- und entwicklungsbedingte Folgestufe des ADHS-HI-Subtyps (reine Hyperaktivität).
⇒ Die Subtypen von ADHS: ADHS-HI, ADHS-I, SCT und andere
2. ICD 10
ICD 11 wird für den 1.1.2022 erwartet.
Aufmerksamkeitsstörung
- ist unaufmerksam gegenüber Aufgabendetails, macht Sorgfaltsfehler bei Aufgaben
- ist häufig nicht in der Lage, Aufmerksamkeit beim Spiel oder bei Aufgaben aufrechtzuerhalten
- hört häufig scheinbar nicht, was ihm/ihr gesagt wird
- kann Aufgaben und Pflichten häufig nicht erfüllen (nicht aufgrund oppositionellen Verhaltens)
- ist beeinträchtigt, Aufgaben und Pflichten zu organisieren
- vermeidet ungeliebte Aufgaben, die Durchhaltevermögen erfordern
- verliert häufig Dinge, die zur Durchführung von Aufgaben wichtig sind (z.B. Stifte)
- wird häufig von externen Stimuli abgelenkt
- ist im Verlauf der alltäglichen Aktivitäten oft vergesslich
Über mindestens 6 Monate treten mindestens 6 der genannten 9 Symptome auf.
Überaktivität
- fuchtelt häufig mit Händen und Füßen oder windet sich auf Sitzen
- verlässt den Platz im Klassenraum oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird
- läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist
- ist häufig unnötig laut beim Spielen oder hat Schwierigkeiten bei leisen Freizeitbeschäftigungen
- anhaltendes Muster exzessiver motorischer Aktivität, die durch den sozialen Kontakt oder Verbote nicht durchgreifend beeinflussbar ist
Über mindestens 6 Monate treten mindestens 3 der genannten 5 Symptome auf
3. ICD 11
ICD 11 wurde im Januar 2022 verabschiedet, liegt jedoch (Stand September 2024) bisher nicht in deutscher Übersetzung vor.4 Die Entwurfsfassung der ICD 11 in Bezug auf ADHS übernimmt die Subtypen des überwiegend hyperaktiven/impulsiven Typs, des überwiegend unaufmerksamen Typs und des Mischtyps. ICD11 wird sich dem DSM 5 annähern11, was wir begrüßen. ICD 11 verbleibt jedoch bei der Anforderung, dass mehrere Symptome bis zum Alter von 6 Jahren aufgetreten sein müssen, während DSM 5 die Grenze auf 11 Jahre angehoben hat. Wir halten eine Anhebung auf 16 Jahre oder eine Aufhebung dieser Anforderung für richtig.
Dass ICD 11 in Deutschland erst ab 2027 angewendet wird, liegt an einer immer noch laufenden Qualitätssicherung der deutschen Übersetzung durch die Fachgesellschaften12 und an der verzögerten Implementierung durch die deutschen Krankenkassen. In Anbetracht der Tatsache, dass ICD im Entwurf bereits seit 2018 vorliegt, sind diese Verzögerungen aus unserer Sicht völlig inakzeptabel, da damit Menschen einer veralteten Diagnostik ausgesetzt sind.
4. Wender-Utah-Kriterien für Erwachsene
Wender-Utah ist ein spezieller Symptomkatalog zu ADHS im Erwachsenenalter
Für eine Diagnose im Erwachsenenalter müssen die Symptome Aufmerksamkeitsstörung und motorische Hyperaktivität sowie zwei weitere der insgesamt 7 Symptomgruppen gegeben sein.13
Aufmerksamkeitsstörung
- Unvermögen, Gesprächen aufmerksam zu folgen
- Erhöhte Ablenkbarkeit
- Vergesslichkeit
Motorische Hyperaktivität
- Innere Unruhe
- Unfähigkeit, sich zu entspannen
- Unfähigkeit, sitzende Tätigkeiten durchzuführen
- Dysphorie bei Inaktivität
Affektlabilität
- Wechsel zwischen neutraler und niedergeschlagener
Stimmung - Dauer von einigen Stunden bis maximal einigen Tagen
Desorganisiertes Verhalten
- Unzureichende Planung und Organisation von Aktivitäten
- Aufgaben werden nicht zu Ende gebracht
Affektkontrolle
- Andauernde Reizbarkeit, auch aus geringem Anlass
- Verminderte Frustrationstoleranz und kurze Wutausbrüche
Impulsivität
- Unterbrechen anderer im Gespräch
- Ungeduld
- Impulsiv ablaufende Einkäufe
- Unvermögen, Handlungen im Verlauf zu verzögern
Emotionale Überreagibilität
- Unfähigkeit, adäquat mit alltäglichen Stressoren umzugehen, Reizüberflutung, Black-Outs
5. Erwachsenenkriterien nach Hallowell / Ratey
Die Autoren des Buches “Zwanghaft zerstreut”, Edward M. Hallowell und John Ratey, haben die nachfolgenden Merkmale zur Erkennung von ADHS bei Erwachsenen vorgeschlagen. Die Merkmale werden dort anhand von Beispielen plastisch erläutert.14
Grundvoraussetzung ist, dass die Symptome bereits seit der Kindheit auftreten und dass andere organische oder psychische Störungen nicht besser geeignet sind, die Symptome zu erklären.
- Gefühl von Leistungsschwäche bzw. davon, die gesteckten Ziele nicht erreicht zu haben
- Schwierigkeiten mit der Organisation des Alltags
- Chronisches Aufschieben von Dingen,
Mühe, eine Sache anzufangen - Viele Projekte gleichzeitig verfolgen,
Schwierigkeiten, eine Sache durchzuziehen - Neigung, zu sagen, was einem in den Sinn kommt, ohne nötige Überlegung, ob Zeitpunkt oder Gegebenheiten hierfür passend sind
- Häufige Jagd nach hochgradiger Stimulierung
- Mangelnde Toleranz gegenüber Langeweile
- Leichte Ablenkbarkeit,
Probleme, Aufmerksamkeit zu fokussieren,
Neigung, mitten auf einer Seite oder in einem Gespräch abzuschalten oder in Gedanken abzuschweifen
nicht selten verbunden mit Fähigkeit, auch zu hyperfokussieren - Probleme, sich an Verfahrensregeln oder Prozedere zu halten
- Ungeduld, geringe Frustrationstoleranz
- Impulsivität beim Reden wie beim Handeln
- Neigung, sich unaufhörlich Sorgen zu machen, Suche nach Themen der Besorgnis, während zugleich wirkliche Gefahren missachtet oder übersehen werden
- Unsicherheitsgefühl
- Stimmungsschwankungen / Stimmungslabilität
- Motorische oder innere Unruhe
- Verringertes Selbstwertgefühl
- Unzutreffende Selbstbeurteilung
- Familiär gehäuftes Auftreten von ADHS
Häufig kreativ, intuitiv, intelligent (kein Symptom, aber oft typisch).
6. Grenzen von DSM und ICD
6.1. DSM und ICD benennen lediglich diagnostische Symptome, nicht alle Symptome
Häufig ist von einer Diagnose nach DSM IV, DSM 5 oder IDC 10 / ICD 11 die Rede.
Diese Bezeichnung führt ein Stück weit in die Irre. DSM und ICD sind mindestens eben sosehr Statistikkataloge wie Diagnosemanuale. Keinesfalls sind sie bindende oder allein gültige Diagnosemaßstäbe, auch wenn sie häufig als solche missverstanden werden.
DSM und ICD nennen ausschließlich diejenigen Symptome von ADHS, die besonders gut geeignet sind, um ADHS von anderen Störungsbildern und von Nichtbetroffenen zu unterscheiden.
Für die Behandlung un Therapie von ADHS ist es unerlässlich, die gesamten Symptome zu kennen, die ADHS verursachen kann.
Eine Liste mit über 40 ADHS-Symptomen findet sich unter ⇒ Symptomgesamtliste nach Erscheinungsformen.
Wir erleben es leider immer wieder, dass Ärzte oder Therapeuten nicht einmal Prokrastination, das am häufigsten durch ADHS verursachte Symptom, als ein von ADHS verursachbares Symptom erkennen. Prokrastination kann auch durch andere Störungsbilder verursacht werden. Das entschuldigt indes nicht, zu negieren, dass ADHS Prokrastination verursachen kann.
Wenn Ärzte oder Therapeuten nicht alle Symptome kennen, die aus einer Störung (hier: ADHS) originär verursacht werden können, kann das dazu führen, dass Betroffene aus einer (ADHS-)Therapie noch zerstörter herauskommen als sie hineingingen, weil ihnen Symptome ihrer Störung als von ihnen persönlich zu verantwortende Fehler vorgeworfen werden, anstatt mit ihnen daran zu arbeiten, das Symptom der Störung zu bekämpfen. Das Gleiche gilt für viele weitere Symptome, wie Rejection Sensitivity (Kränkbarkeit; gibt sich bei vielen Betroffenen unmittelbar mit Wirkungseintritt von Stimulanzien), emotionale Dysregulation, Ängstlichkeit, die ebenfalls originäre (gemeint ist: kann unmittelbar durch ADHS ausgelöst werden) Symptome von ADHS sein können.
Sehr häufig wird auch das originäre ADHS-Symptom der Dysphorie bei Inaktivität, das zusammen mit den ebenfalls häufigen ADHS-Symptomen Anhedonie und Antriebslosigkeit häufig bei ADHS auftritt, als Depression fehldiagnostiziert.
6.2. Statistik ändert keine Krankheiten
Die Änderungen von DSM I bis DSM 5 haben die statistische Erfassung von Krankheiten verändert, aber nicht deren Existenz. Krankheit ist nach unserem Verständnis eine subjektive Beeinträchtigung des Wohlbefindens von Menschen, die so stark ist, dass entweder der Betroffene für sich daran etwas ändern möchte, was eine Behandlung rechtfertigt, oder dass er Dritte so sehr in Mitleidenschaft zieht, dass eine Behandlung objektiv geboten erscheint.
Ob die Beeinträchtigung des Wohlbefindens im DSM oder ICD aufgeführt ist oder bei einer Krankenkasse eine Abrechnungsnummer hat, ist für das Krankheitsempfinden der Betroffenen oder die Beeinträchtigung der Umwelt herzlich irrelevant. Umgekehrt ist unserer Ansicht nach nicht entscheidend, ob Symptome, die ein Mensch hat, in DSM oder ICD aufgeführt sind, wenn weder der Betroffene noch Dritte damit ein Problem haben.
Krause zitieren den Vorsitzenden der Redaktion des DSM IV, den Psychiater Frances Allen, mit der überaus richtigen und wichtigen kritischen Feststellung: “Das DSM muss einfach bleiben, aber die Psychiatrie muss es nicht. Die DSM-Diagnostik sollte nur einen kleinen Teil der Gesamtbeurteilung ausmachen”. Und weiter kritisiert Allen: “Aus einer nuancierten Psychiatrie ist eine Checklisten-Psychiatrie geworden, die individuelle Unterschiede einebnet…“.15
6.3. DSM / ICD sind Hilfen, keine Bibeln
Die Diagnosekriterien von DSM und ICD sind wertvolle Hilfen bei der Feststellung, zu welcher Gruppe die Beeinträchtigung des Betroffenen gehört. Wer aber nur die DSM- oder ICD-Symptome abfragt und zum alleinigen Maßstab einer Behandlung macht, zeigt damit, dass er sich mit dem eigentlichen Problem nicht wirklich auskennt oder aber den Patienten nicht ernst nimmt.
Dass DSM und ICD nur Statistiktools und Diagnosemanuals sind und nicht als allein entscheidende Diagnosekriterien herangezogen werden können, ergibt sich, wie bereits erwähnt, daraus, dass die beiden Systeme schon viele Iterationen mit recht unterschiedlichen Kriterien hinter sich haben und sich zudem untereinander unterscheiden. Dabei hat sich nicht das ADHS an sich verändert, sondern lediglich die jeweiligen Verständniskonzepte von DSM und ICD. Zudem fehlen in DSM wie ICD nach wie vor wichtige Symptome, wie z.B. Dysphorie bei Inaktivität, das nach wie vor nur bei Wender/Utah genannt wird.
Ohnehin waren DSM IV und ICD 10 immer nur auf ADHS bei Kindern und Jugendlichen zugeschnitten.16
Die Symptome von Erwachsenen unterscheiden sich jedoch erheblich. ⇒ ADHS bei Erwachsenen
Für die Betroffenen zählt allein die Beschwernis, die sie durch ihre Krankheit erleiden, egal ob diese von einem Kriterienkatalog erfasst wird oder nicht.
Koutsoklenis A, Honkasilta J (2023): ADHD in the DSM-5-TR: What has changed and what has not. Front Psychiatry. 2023 Jan 10;13:1064141. doi: 10.3389/fpsyt.2022.1064141. PMID: 36704731; PMCID: PMC9871920. ↥
Barkley (2023): Assessment of ADHD in Children and Teens. Youtube. 05:00 / 01:33:00 ↥
Barkley (2023): Assessment of ADHD in Children and Teens. Youtube. 01:06:30 / 01:33:00 ↥
Barkley (2023): Assessment of ADHD in Children and Teens. Youtube. 07:30 / 01:33:00 ↥
Kooij, Bijlenga, Salerno, Jaeschke, Bitter, Balázs, Thome, Dom, Kasper, Filipe, Stes, Mohr, Leppämäki, Brugué, Bobes, Mccarthy, Richarte, Philipsen, Pehlivanidis, Niemela, Styr, Semerci, Bolea-Alamanac, Edvinsson, Baeyens, Wynchank, Sobanski, Philipsen, McNicholas, Caci, Mihailescu, Manor, Dobrescu, Krause, Fayyad, Ramos-Quiroga, Foeken, Rad, Adamou, Ohlmeier, Fitzgerald, Gill, Lensing, Mukaddes, Brudkiewicz, Gustafsson, Tania, Oswald, Carpentier, De Rossi, Delorme, Simoska, Pallanti, Young, Bejerot, Lehtonen, Kustow, Müller-Sedgwick, Hirvikoski, Pironti, Ginsberg, Félegeházy, Garcia-Portilla, Asherson (2018): Updated European Consensus Statement on diagnosis and treatment of adult ADHD, European Psychiatrie, European Psychiatry 56 (2019) 14–34, http://dx.doi.org/10.1016/j.eurpsy.2018.11.001, Seite 17 ↥ ↥
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Eigene Aussage von Barkley, der an DSM IV mitgewirkt hat ↥