Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
ADHS kann nicht allein durch symptomorientierte Beschreibungen oder durch ein einzelnes neurologisches Wirkprinzip erklärt werden. Verschiedene Modelle erklären ADHS aus unterschiedlichen Perspektiven und ergänzen sich gegenseitig.
Da ADHS dimensional ist, kann es (als Störungsbild) als extreme Form einer Persönlichkeitsausprägung beschrieben werden.
Ältere, einfache Modelle beschränkten sich darauf, die sichtbaren Symptome wie Hyperaktivität, Impulsivität und Unaufmerksamkeit zu benennen. Ein Modell sieht eine Inhibitionsstörung als zentrales Merkmal von ADHS. Ein verändertes Belohnungsreaktionsverhalten und eine veränderte Motivation werden ebenfalls als mögliche Erklärungsansätze genannt. Die Hypothese, dass ADHS als Evolutionsfolge entstanden sein könnte (Jäger und Sammler) ist kaum haltbar.
Etliche Erklärungsmodelle beschreiben ADHS als Dopaminmangel im Gehirn, als verringerte extrazelluläre Dopaminspiegel und verringerte oder erhöhte phasische Dopaminsfreisetzung.
ADHS wird auch als Gehirnentwicklungsverzögerung, insbesondere dopaminerger Gehirnbahnen, beschrieben.
Das menschliche Gehirn ist erst im Alter von 23 bis 25 Jahren ausgereift. Bei ADHS ist die Entwicklung des präfrontalen Kortex verzögert oder gestört, was zu Symptomen wie Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität führen kann. Bei manchen Betroffenen kann das Gehirn die Entwicklungsverzögerung im Erwachsenenalter aufholen. In der Adoleszenz haben noch etwa 80 % der Betroffenen ADHS-Symptome, während im Erwachsenenalter nur noch rund 50 % Symptome aufweisen, die dann teilweise eine andere Form aufweisen.
Daneben bestehen komplexere Modelle:
Die dynamische Entwicklungstheorie betont die Rolle der veränderten dopaminergen Funktion und erklärt die Verhaltensprobleme und Symptome von ADHS durch die Interaktion von genetischer Veranlagung und Umwelteinflüssen. Das Dopamin-Transfer-Defizit-Modell beschreibt eine abgeschwächte phasische Dopaminreaktion auf Belohnungshinweise. Das kognitiv-energetische Modell nach Sergeant sieht einen Mangel an kortikaler Gesamtaktivierung aufgrund einer Dysfunktion im retikulären System des Hirnstamms. Das 2 bzw. 3-Ursachen-Modell von Sonuga-Barke geht davon aus, dass unterschiedliche Regelkreise im Gehirn für verschiedene Symptome wie z.B. Hemmungsstörungen, Belohnungsprobleme und Zeitverarbeitungsstörungen verantwortlich sind. Das 4-Kategorien-Modell nach Hunt beschreibt vier Hauptprobleme bei ADHS: eine Störung der selektiven Aufmerksamkeit, ein exzessives Arousal, behaviorale Desinhibition bzw. Impulsivität/Hyperaktivität und Probleme im Belohnungssystem. Das reduzierte Inhibitionsmodell besagt, dass eine verminderte Unterdrückung des Default Mode Networks (DMN) zu Unaufmerksamkeit bei ADHS führt.
Die Hypothese von Ulrich Brennecke (ADxS.org) besagt, dass das Gehirn bei ADHS dauerhaft in einem Funktionsprofil arbeitet, das eigentlich für schweren Stress vorgesehen ist. Die so hervorgerufenen Symptome wären bei schwerem Stress funktional, bei ADHS (das meist genetisch entsteht und keinen zu bekämpfenden Stressor hat) sind sie jedoch nachteilig. Während stressbedingte Symptome mit dem Stressor wieder gehen, bleiben bei ADHS die Symptome dauerhaft und häufig lebenslang bestehen. Die Hypothese legt nahe, dass ADHS-Medikamente bei (nur) schwerem Stress kurzfristig ebenfalls hilfreich sein könnten.
1. Symptomorientierte Beschreibungen¶
Die einfachsten Modelle orientieren sich allein an den sichtbaren Symptomen.
1.1. Zappelphilipp¶
Dieser Begriff bezog sich allein auf motorische Hyperaktivität. Die Bezeichnung war lediglich ein Buchtitel. ADHS umfasst weitaus mehr als nur Hyperaktivität und tritt als ADHS-I auch ohne Hyperaktivität auf.
1.2. Hans-Guck-in-die-Luft; Träumerle¶
Diese Begriffe beziehen sich auf den ADHS-I-Subtyp.
1.3. Aufmerksamkeits-/Hyperaktivitätssyndrom¶
Diese – auch heute noch im Namen ADHS-HI abgekürzte Bezeichnung – nahm die Aufmerksamkeitsprobleme hinzu. Die zwei Begriffe verleiten zu der Fehlannahme, dass diese beiden Symptome die Probleme umfassend kennzeichnen würden. Die ⇒ Symptomgesamtliste nach Erscheinungsformen umfasst an die 20 Symptomgruppen mit über 50 Symptomen.
Die Reduzierung auf Hyperaktivität und Aufmerksamkeit übersieht zudem, dass diese beiden Symptome nicht bei allen Betroffenen mit ADHS auftreten.
Die Fixierung auf diese Begriffe bewirkte weiter, dass lange übersehen wurde, dass Hyperaktivität sich im Erwachsenenalter häufig deutlich reduziert. Dann treten bei vormals hyperaktiven Betroffenen die (wahrscheinlich schon zuvor bestehende, aber nicht erkennbare) Innere Unruhe und ein Drang zur ständigen Aktivität in den Vordergrund. Während Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit für Dritte (insbesondere Eltern und Lehrer) sehr gut erkennbar sind, und deshalb (viel zu) lange im alleinigen Fokus der Beschreibung standen, sind für die Betroffenen selbst die weniger sichtbaren Symptome aus dem Bereich der emotionalen Dysregulation und der Unteraktivierung weitaus belastender.
2. Wirkprinziporientierte Erklärungsmodelle¶
Weitere Beschreibungen versuchten, ADHS auf ein einzelnes “defektes” neuro(physio)logisches Wirkprinzip zu reduzieren.
2.1. Störung der Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit¶
Die naheliegendste Beschreibung von ADHS, dass die Fähigkeit der Konzentration und Aufmerksamkeit per se neurologisch gestört sei, ist nicht haltbar.
Die technische Fähigkeit zur Konzentration und Aufmerksamkeit ist bei ADHS-Betroffenen nicht beeinträchtigt. ADHS-Betroffene können sich sehr wohl – auch lang anhaltend – konzentrieren (Stichwort: Hyperfokus). Sie können diese Aufmerksamkeit und Konzentration jedoch nicht so lenken wie Nichtbetroffene.
Doch genauer betrachtet ist auch die Steuerungsfähigkeit von Aufmerksamkeit und Konzentration nicht “defekt” – sie folgt lediglich einem anderen Leitbild. Dieses Leitbild ist, dass eine akute schwerwiegende Stresssituation bestünde, vergleichbar einer überlebensgefährlichen Situation. Für diese Situation sind die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeiten, einschließlich der Ablenkbarkeit, optimal.
⇒ Stressnutzen – Der überlebensfördernde Zweck von Stresssymptomen.
Die voll funktionsfähige Aufmerksamkeit, Konzentration und Aufmerksamkeitssteuerung sind jedoch durch dieses Leitbild des Notzustandes so verzerrt, dass ihre Alltagstauglichkeit eingeschränkt ist – es besteht ein “Stress ohne adäquaten Stressor”. Die bei starkem Stress funktionalen Veränderungen z.B. der Aufmerksamkeit werden dauerhaft angewendet, was im Ergebnis eine gravierende Fehlfunktion darstellt.
Fehlerhaft ist also weder die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit, noch die Lenkungsfähigkeit der Aufmerksamkeit. Fehlerhaft ist, dass sie im Stressmodus laufen, obwohl kein adäquater Stressor gegeben ist. Beeinträchtigt ist die saubere Aktivierung und/oder Deaktivierung der Stressregulationssysteme.
⇒ ADHS als chronifizierte Stressregulationsstörung.
2.2. Reizfilterschwäche¶
Bei ADHS ist regelmäßig unter anderem der Filter, der unwichtige Reize ausblendet, zu weit geöffnet. Insbesondere in Situationen mit geringem intrinsischem Interesse besteht eine Schwäche der Reizfilterung.. Die Ursache von ADHS als Reizfilterschwäche wird auf Fehlfunktionen des Striatums und des Thalamus zurückgeführt.
Der zu weit geöffnete Reizfilter führt einerseits zu Ablenkung und damit zu Unaufmerksamkeit und Konzentrationsproblemen und andererseits aufgrund des Übermaßes an aufgenommenen Reizen zu einer zusätzlichen Erhöhung der Stressbelastung und damit zu Stress, der sich in Hyperaktivität (ADHS-HI) oder in Wegdriften (Träumerle, ADHS-I) äußern kann – oder in einer Mischung daraus.
Reizfilterschwäche ist ein Teil von ADHS, der jedoch auch ohne ADHS auftreten kann, weshalb diese nicht der einzige kausale Pfad ist.
Viele ADHS-Betroffen berichten allerdings neben einer Beeinträchtigung der Fähigkeit zum Ausblenden irrelevanter Reize auch eine erhöhte (subjektive) Sensibilität für Reize innerhalb der zielgerichteten Aufmerksamkeit. Dieses Phänomen könnte man auch als den Anteil von Hochsensibilität an ADHS bezeichnen, wobei das bislang nicht validierte Konstrukt Hochsensibilität nach Aron noch weitere Elemente umfasst.
Hochsensibilität kann ebenfalls ohne ADHS bestehen. Hochsensibilität ist nicht identisch mit ADHS, wenn auch eine gewisse Nähe nicht zu übersehen ist. Wir kennen etliche (zum Teil äußerst) hochsensible Menschen, die zwar in vereinzelten Punkten sehr ähnliche Reaktionen wie ADHS-Betroffene haben, deren (Stress-)Regulationssysteme jedoch voll funktionsfähig sind, die also keine subjektive Überlastung aufweisen. Unserer Ansicht nach macht erst diese Überlastung aus der Reizfilterschwäche (Hochsensibilität) ADHS.
2.3. Verzögerung der Gehirnentwicklung / Gehirnreifung¶
Ende der Neunzigerjahre setzte sich die Erkenntnis durch, dass ADHS zwar im Kindesalter entsteht, sich aber nicht zwingend nach der Pubertät verliert, sondern zu 50 bis 80 % im Erwachsenenalter fortbesteht, wobei die Symptome sich dabei ändern. Hyperaktivität geht stark zurück, die innere Unruhe tritt in den Vordergrund, Aufmerksamkeitsprobleme und Impulsivitätsprobleme gehen etwas zurück etc.
⇒ ADHS bei Erwachsenen
ADHS ist mit einer Entwicklungsverzögerung (oder dauerhaften Entwicklungsstörung bei bis ins Erwachsenenalter persistierender ADHS) bestimmter Gehirnfunktionen / Gehirnbereiche verbunden, vornehmlich hinsichtlich der Reifung dopaminerger und noradrenerger Bahnen. Dass sich ADHS bei etlichen Betroffenen abschwächt / verliert, lässt sich auf eine verzögerte Entwicklung einzelner Gehirnfunktionen zurückführen. Manche dieser Gehirnfunktionen können sich während der Adoleszenz noch nachentwickeln, sodass sich ihre Funktionalität der von Nichtbetroffenen annähert.
Diese Nachentwicklung des Gehirns tritt jedoch nur in einzelnen der betroffenen Gehirnregionen ein, in anderen nicht. Weiterhin sind auch bei Menschen, deren ADHS-Belastung in der Kindheit sich im Erwachsenenalter so weit reduziert hat, dass keine Störung mehr besteht, die hier relevanten Gehirnbereiche nicht vollständig “nachentwickelt”.
Richtig ist, dass bei ADHS die Gehirnentwicklung bereits im Kindesalter verzögert ist. Doch nicht alle Gehirnentwicklungsverzögerungen müssen ADHS-Symptome bewirken oder mit diesen korrelieren.
Während bei Nichtbetroffenen ein erstes Maximum der Cortexdicke im Alter von 7 bis 8 Jahren erreicht wird, ist dies bei ADHS-Betroffenen erst im Schnitt mit 10,8 Jahren der Fall. Dass dies nicht zwingend eine kausale Ursache von ADHS darstellt, ergibt sich schlüssig daraus, dass die Gehirnentwicklungsverzögerung bei Hochbegabung nochmals geringfügig stärker ist (erstes Maximum der Cortexdicke im Schnitt mit 11 Jahren).
Da Ratten, die in “enriched environments” aufwachsen, einen dickeren Cortex entwickeln, wäre es vorstellbar, dass die bei ADHS wie bei Hochbegabung korrelierende Hochsensibilität als Entsprechung einer “enriched perception” im Ergebnis zu einem dickeren Cortex führt (der sich zugleich später ausbildet).
Unsere Hypothese, dass die bei ADHS unserer Ansicht nach immanente Hochsensibilität / Reizfilterschwäche bei Hochbegabung ebenfalls häufig vorhanden sein müsste, wurde durch die Daten der ADxS-Onlinetests dagegen nicht bestätigt.
Mehr hierzu unter ⇒ Hochbegabung und ADHS.
Sofern es richtig ist, dass bestimmte Gehirnregionen zu ihrer Reifung auf Dopamin angewiesen sind, wäre die Tatsache, dass bei ADHS der Dopaminspiegel in bestimmten Gehirnbereichen verringert ist (PFC, Striatum), möglicherweise geeignet, eine Verzögerung der Gehirnreifung zu erklären. Diese wäre dann möglicherweise die Folge und nicht die Ursache von ADHS. Möglicherweise führen die genetischen Ursachen von ADHS zu einem Dopaminmangel, aufgrund dessen eine Gehirnentwicklungsverzögerung eintritt. Dies deckt sich damit, dass frühkindlicher Stress ebenfalls die dopaminergen Systeme beeinträchtigen kann, was in der Folge ebenfalls mit Gehirnentwicklungsverzögerungen einhergeht.
Mehr hierzu unter ⇒ Frühe Bindungsstörung beeinträchtigt Selbstorganisation der rechten Gehirnhemisphäre im Beitrag ⇒ Gehirnhemisphären im Kapitel ⇒ Neurologische Aspekte
Es gibt Hinweise auf eine gewisse Nachentwicklung des Gehirns von ADHS-Betroffenen auch noch im Erwachsenenalter, wodurch sich IQ-Defizite verringern können.
Insgesamt ist ADHS also mit einer verzögerten Gehirnentwicklung verbunden, lässt sich aber nicht (pauschal) darauf reduzieren oder monokausal daraus erklären. Die Entwicklungsverzögerung scheint eher Abbild veränderter neurologischer Prozesse zu sein.
Faszinierend ist, dass Hochbegabte und ADHS-Betroffene nicht nur über das Phänomen der verzögerten Gehirnentwicklung miteinander verbunden sind, sondern zudem über gemeinsame spezifische Charaktereigenschaften (Traits). Mehr hierzu unter ⇒ Hochbegabung und ADHS.
Mehr zu ADHS als Gehirnentwicklungsstörung unter *⇒ Gehirnentwicklungsstörung und ADHS
2.4. Extreme Form einer Persönlichkeitsausprägung / dimensionale Definition¶
Es wird kaum noch diskutiert, ob ADHS kategorial definiert werden könnte. ADHS ist vielmehr dimensional zu beschreiben.
Kategorial bedeutet, dass das Vorhandensein bestimmter Eigenschaften oder Symptome bestimmt, ob ADHS besteht. Kategorial ist: schwanger oder nicht. Dimensional bedeutet demgegenüber, dass nicht einzelne bestimmte Symptome das vorhanden sein von ADHS definieren, sondern die Häufigkeit und das Maß, in denen diese auftreten. Dimensional ist: leicht oder schwer depressiv.
ADHS wird zuweilen als extreme Ausprägung einer Persönlichkeitsstruktur beschrieben (Farmer-/Hunter-Hypothese).
Möglicherweise ist diese Persönlichkeitsausprägung besonders erfolgreich, weil sich die bestimmte Kandidatengene von ADHS weit schneller verbreiten, als statistisch zu erwarten ist. Dies schließt an das Modell der Chance-/Risiko-Gene an, das in ⇒ Wie ADHS entsteht: Gene + Umwelt ausführlich dargestellt wird.
Banaschewski schließt aus der Tatsache, dass ADHS durch das Zusammenwirken multipler Genvarianten untereinander, ggf. unter hinzutretenden Umwelteinflüssen, entsteht, dass ADHS wahrscheinlich die extreme Ausprägung einer Verhaltensdimension darstellt.
Barkley hat für ADHS bei Erwachsenen 18 Symptome gesammelt. Er stellt fest, dass alle diese Symptome auch bei Nichtbetroffenen auftreten können. Der Unterschied zwischen ADHS und Nicht-ADHS ist die Häufigkeit des Auftretens der Symptome. Während bei Nichtbetroffenen im Schnitt nur 1 dieser 18 Symptomen häufig auftritt, treten bei Erwachsenen mit ADHS im Schnitt 12 der 18 Symptome häufig auf. Danach ist ADHS dimensional zu definieren.
Das Modell eines Persönlichkeitstypus, der sich in einer extremen Ausprägung als (Persönlichkeits-)Störung manifestiert, ist grundsätzlich auf alle psychischen Störungen anwendbar. Manche Menschen sind das Gegenteil von narzisstisch – sie finden jede Form von Exposition und Selbstdarstellung als unangenehm.
Andere haben einen soliden narzisstischen Persönlichkeitsanteil und zeigen besonders gerne, was sie geschaffen haben (narzisstische Persönlichkeit in Abgrenzung zur narzisstischen Persönlichkeitsstörung).
In allen Fällen ist erst eine Extremform für den Betroffenen (und sein Umfeld) störend: beim Narzissmus beispielsweise, wenn die große, tolle Show nach außen das kleine hilflose Wesen dahinter verdecken muss, weil die Betroffenen ihre eigenen schwachen Seiten nicht ertragen können oder wenn im anderen Extrem das Verstecken jeder eigenen Größe das pathologische Maß des Echoismus Begriff erreicht und dazu führt, dass eigene berechtigte Interessen verleugnet werden, weil es so wenig ertragen wird, wenn eigene Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden, dass dieser Konflikt von vornherein vermieden werden muss.
Ein anderes Beispiel: Jemand kann als besonders penibel und sorgfältig gelten und damit in einem geeigneten beruflichen Umfeld (z.B. Buchhaltung) sehr erfolgreich sein, oder diese Eigenschaften in einem derartigen Extrem besitzen, dass er selbst so sehr darunter leidet, dass dies als Zwangsstörung bezeichnet werden kann.
ADHS ist demnach in Bezug auf die Symptome dimensional zu definieren. Dies erklärt jedoch nicht, welche neurologische Ursache die Störung hat, wie sie sich äußert und (darauf aufbauend) wie man sie behandeln kann.
2.5. Aufmerksamkeitsmodell (Posner, Petersen)¶
Petersen und Posner beschrieben 1990 drei neuronale Aufmerksamkeitssysteme, die bei ADHS gestört seien..
Petersen und Posner haben Ihre Darstellung, die immerhin 3.500 Mal zitiert wurde, 2012 überarbeitet..
Die folgende Darstellung basiert auf Drechsler, ergänzt um Informationen aus Review Petersen, Posner (2012).
2.5.1. Wachheit/Alerting/visuelle Orientierung¶
Diese ist noradrenerg gesteuert.
Symptome:
- Unaufmerksamkeit
- Wachheit beeinträchtigt
- Schwierigkeiten bei Daueraufmerksamkeit
- arbeiten nicht zu Ende bringen
- Abneigung gegen länger andauernde (monotone) Anstrengung
neuronale Schaltkreise:
-
Locus coeruleus
- rechts frontal
- rechts posterior parietal
2.5.2. Orientierungs-/Aufmerksamkeitsausrichtungs-Kreis¶
Symptome:
- Unaufmerksamkeit
- leicht abgelenkt
- scheint nicht zuzuhören
- Flüchtigkeitsfehler
Neuronale Schaltkreise:
-
dorsales Aufmerksamkeitssystem (top-down).
-
frontal eye fields (FEF)
- intraparietal sulcus
-
superior parietal lobe
-
ventrales Aufmerksamkeitssystem (bottom-up).
- temporoparietal junction (TPJ)
-
ventraler frontal cortex (VFC)
-
posteriorer parietaler Cortex
-
bilateraler parietaler Cortex
- Colliculus superior
- Thalamus
- Pulvinar.
2.5.3. Exekutive Kontrolle¶
Symptome:
- hyperaktiv/impulsiv
- platzt mit der Antwort heraus
- unterbricht oder stört andere
- kann nur schwer warten
Neuronale Schaltkreise:
-
anteriorer cingulärer Cortex (ACC)
- Basalganglien
-
medialer präfrontaler Cortex (mPFC)
2.6. Inhibitionsstörung (Barkley)¶
Barkley sieht bei ADHS vor allem die Kontrolle von Inhibitionsprozessen (Mechanismen der Verhaltenshemmung) beeinträchtigt. Die Kontrolle über Inhibitionsprozesse definiert Barkley als Fähigkeit zur Selbstregulation.
Barkley unterteilt Verhaltenshemmung in drei Komponenten:
- Unterdrückung dominanter Antworttendenzen
- Unterbrechung bereits begonnener Antworten
- Kontrolle von Interferenz
Die Inhibitionsprozesse regulieren laut Barkley die exekutiven Funktionen. Bei ADHS seien danach vier Bereiche gestört:
- Das nonverbale Arbeitsgedächtnis
Probleme bei:
- Zeitverarbeitung
- Zeitwahrnehmung
- vorausschauendes Planen
- Selbstwahrnehmung
- das verbale Arbeitsgedächtnis
Probleme bei:
- sich selbst Anweisungen zu geben
- innere Regeln aufstellen
- Regeln einhalten
-
Motivation, Affekt, Arousal
Probleme bei:
- Bedürfnisaufschub
- Bedürfniskontrolle
- Wahrnehmung der Bedürfnisse und Sichtweisen anderer
- zielorientiertes Handeln
- Rekonstitution
Probleme bei:
- Wissen neu zu kombinieren
- Schlussfolgerungen
- Planung
- kreativem Denken
Barkley sieht dabei keine grundsätzliche Unfähigkeit in diesen Bereichen, sondern ein Problem in der Steuerung, die grundsätzlich vorhandenen Fähigkeiten angemessen einzusetzen. Nicht das “Wie” und “Was” ist beim Verhalten beeinträchtigt, sondern eher das “Wo” und “Wann”.
2.7. Störung der Exekutivfunktionen¶
ADHS wird häufig als exekutive Dysfunktion betrachtet.
2.8. Motivationsstörung / Verändertes Belohnungsreaktionsverhalten¶
ADHS kann auch als motivationale Dysfunktion betrachtet werden, die durch Versuche gekennzeichnet ist, einer Verzögerung zu entgehen oder sie zu vermeiden. Dies soll insbesondere durch veränderte Belohnungsprozesse in frontostriatalen Schaltkreisen entstehen.
Wender postulierte bereits 1971, dass bei ADHS Anomalien im Belohnungszentrum des Gehirns die Reaktionsfähigkeit auf Belohnungen wie auf Strafen verringern. Haenlein und Caul entwickelten auf dieser Grundlage die Hypothese einer “erhöhten Belohnungsschwelle” bei ADHS, was dazu führe, dass eine bestimmte Belohnung für ADHS-Betroffene einen geringeren Belohnungswert habe als für Nichtbetroffene. Stimulanzien beheben genau dieses Defizit.
Vielfache Studien bestätigen, dass ADHS-Betroffene bei entsprechender Belohnung in Tests die gleiche Leistung wie Nichtbetroffene zeigen in den Kategorien
- Aufmerksamkeit
-
Inhibition
was die Hypothese eines erhöhten Belohnungsschwellwertes unterstützt.
Ebenso sind Impulsivität und zumindest teilweise das Arbeitsgedächtnis betroffen. Für viele weitere ADHS-Symptome wurde offenbar bis heute nicht untersucht, ob diese bei einem durch entsprechende Belohnung hervorgerufenen individuellen Interesse noch fortbestehen.
Unser Erklärungsmodell für die Besonderheiten des Aufmerksamkeitssystems bei ADHS aufgrund einer Verschiebung der Motivation in Richtung intrinsischer Motive unterstützt die Einordnung als motivationale Problematik.
Mehr hierzu unter ⇒ Motivationsprobleme im Kapitel ⇒ Symptome.
2.8. ADHS als Evolutionsfolge¶
Gegen die meisten evolutionsbedingten Theorien spricht unserer Ansicht nach, dass ADHS zwei sehr konträre Subtypen hat, die kaum gleichzeitig eine evolutionsbedingten Vorteil versprechen. Die Subtypen sind zudem nicht genetisch disponiert.
2.8.1. Jäger und Sammler (Hartmann)¶
Nach Hartmann sind ADHS-Betroffene die Nachfolger des Typus von Jägern, die mit den Lebensbedingungen der heutigen Welt weniger kompatibel seinen als der Typus des Sammlers.
Diese auf den ersten Blick plausible Hypothese verwechselt unserer Ansicht nach externalisierende Verhaltensphänotypik mit ADHS-HI und ADHS-C sowie internalisierende Verhaltensphänotypik mit ADHS-I.
Ein Mensch, der mehr externalisierende Persönlichkeitsanteile trägt, mag glücklicher sein als Jäger denn als Sammler. ADHS-Symptome wie Unaufmerksamkeit, Impulsivität etc. sind jedoch auch bei der Jagd hinderlich und machen ihn innerhalb der Gruppe der Jäger weniger erfolgreich als andere mit ebenso vielen externalisierenden Persönlichkeitsanteilen, aber ohne ADHS-Symptome. Andernfalls wären ADHS-HI-Betroffene, wenn sie nur einen Beruf hätten, der unruhig genug ist, besonders erfolgreich. ADHS ist aber kein Berufswahlproblem.
Ebenso liegt Menschen mit vielen internalisierenden Persönlichkeitsanteilen das Sammeln vielleicht mehr als das Jagen. Doch ein Mensch mit mehr internalisierenden Persönlichkeitsanteilen ist auch als Bibliothekar durch ADHS-Symptome wie Wegträumen, Vergesslichkeit und Ablenkbarkeit belastet und wird durch diese nicht in seinem Beruf gefördert.
Beruflicher Erfolg ist mit ADHS ist durchaus möglich. Dafür ist es aber hilfreicher, wenn der gewählte Beruf möglichst nahe an den wahren intrinsischen Interessen liegt, als an passender Persönlichkeitsphänotypik. Mehr hierzu im Beitrag Motivation bei ADHS.
Für die Hypothese von Hartmann spricht dagegen eine Studie, wonach Erwachsene mit ADHS aufgrund erhöhter Impulsivität bessere Sammler sein könnten als Nichtbetroffene. In einem Videospiel sammelten n = 457 Erwachsene Beeren. Mit zunehmender Dauer sank der Ertrag eines Busches; das Wechseln des Busches kostete Zeit. Teilnehmer mit ADHS-Symptomen sammelten im Schnitt 602 Beeren, Testpersonen ohne ADHS-Symptome 521 Beeren. Dies könnte auf einen Vorteil von Impulsivität in diesem Anwendungsfall hindeuten, indem sie einen schnelleren Ressourcenwechsel förderte und das Überernten eines Busches verringerte. Eine andere Studie fand einen Vorteil durch die mit ADHS assoziierte Genvariante DRD4-7R bei unterernährten Nomaden, während diese bei denjenigen desselben Volkes die (bereits) sesshaft geworden waren, mit einem schlechteren BMI korrelierte. Zwei Studien berichten eine Korrelation zwischen DRD4-7R und migrantischem Entdeckergeist.
2.8.2. Geschwindigkeit menschlicher Entwicklung (Mismatch-Theorie / Anachronismus von ADHS)¶
Diese Hypothesen besagen, dass die menschlichen Gesellschaften sich so schnell verändert haben, dass sie die viel langsameren evolutionären Veränderungen, die für die Selektion auf diese Merkmale erforderlich sind, überholt haben.
2.8.3. Theorie der natürlichen positiven Selektion (Thagaard et al.)¶
Nach dieser Theorie waren ADHS-Merkmale unter bestimmten Umständen von Vorteil. Hartmanns Jäger- und Sammler-Theorie ist ein Vertreter dieser Richtung.
Hyperaktivität könnte beim Aufspüren neuer Gelegenheiten oder bei der Migration in ein besseres Klima von Vorteil gewesen sein.
Impulsivität in Verbindung mit der Reaktionsbereitschaft und der Fähigkeit zu kämpfen oder zu fliehen sowie Unaufmerksamkeit als hochgradig überprüfendes Verhalten könnte unter diesen Umweltbedingungen wahrscheinlich adaptiv waren.
2.8.4. ADHS als Folge erhöhter sexueller Aktivität¶
Eine positive Selektion könnte sich schlicht daraus ergeben haben, dass ADHS den Fortpflanzungserfolg erhöht hat, da ADHS-Betroffene durchschnittlich früher den ersten Geschlechtsverkehr haben, mehr Sexualpartner haben und früher Eltern werden.
2.9. ADHS als abweichende Funktionsprofile des Gehirns¶
Mit abweichenden Funktionsprofilen meinen wir Modelle, die ADHS nicht als unmittelbare Folge einer krankhaften Fehlfunktion des Gehirns oder einzelner Teile davon betrachten, sondern ADHS als Folge eines anderen Funktionsmodus des Gehirns betrachten, der nicht selbst unmittelbar krankhaft ist, sondern (unter anderen Umständen) eine gesunde Funktionsweise darstellt. Krankhaft bei ADHS ist nach diesen Modellen eher, dass das Gehirn in diesem anderen Funktionsmodus befindet, ohne dass die Voraussetzungen oder Auslöser gegeben sind, unter denen das Gehirn sich gesunder Weise in diesem Zustand befinden sollte,
2.9.1. Posteriorisierung der Verhaltenssteuerung (Dietrich)¶
Dietrich hat bereits 2010 die Ursache von ADHS in einer Verlagerung der Prozesse der Verhaltenssteuerung aus dem PFC in posteriore Gehirnregionen beschrieben. Dietrich beschreibt den Posteriorisierungsprozess als Folge von Unsicherheit.
2.9.2. Unusual Management of Informations and Functions (Lachenmaier)¶
Winkler übersetzte dies in einem Vortrag 2022 als neurodiverse Handhabung und Koordination von Wahrnehmungen, Impulsen, Emotionen und Exekutivfunktionen.
2.9.3. Variable Attention Stimulus Trait (VAST) (Hallowell, Ratey)¶
Hallowell und Ratey sehen dabei allerdings weniger ein an sich funktionelles Profil, das unter unpassenden Umständen verwendet wird, sondern beschreiben VAST in ADHD 2.0 als einen Trait, dessen pathologische Extremform ADHS darstellt. Zugleich differenzieren Hallowell und Ratey zwischen ADHS als biologisch induziert und VAST als Umwelt-induziert.
Dies erinnert in gewisser Weise an die Jäger und Sammler-Hypothese von Hartmann.
2.9.4. ADHS-Symptome als Fehlsteuerung der Stressregulationssysteme (Brennecke)¶
Nach der Hypothese von Ulrich Brennecke befindet sich bei ADHS das Gehirn dauerhaft in einem spezifischen Funktionsprofil, das lediglich bei schwerem (chronischen) Stress gesund und sinnvoll ist. Das Problem bei ADHS liegt nach dieser Hypothese eher darin, dass es erstens keinen adäquaten Auslöser dafür gibt, dass das Gehirn in diesem Zustand arbeitet und zweitens, dass dieser Zustand dauerhaft ist, wofür der Funktionsmodus ungeeignet und nicht gedacht ist.
Die Hypothese besagt ausdrücklich nicht, dass Stress die Ursache von ADHS wäre (auch wenn dieser, wie es in der Stressmedizin längst unstreitig ist, durchaus zur Entstehung von psychischen Störungen im allgemeinen und ADHS im Besonderen beitragen kann; aber ADHS ist eben nur zu 75 % vererblich - und unter Berücksichtigung der Epigenetik, also über 3 - 4 Generationen hinweg, sind Umweltursachen noch höher zu gewichten). Jedenfalls ist nicht gemeint, dass man nur irgendeinen Stress beseitigen müsse, um ADHS loszuwerden - das wäre esoterischer Unsinn, dem von vorneherein entgegenzutreten ist. Auch nach der Stressmodus-Hypothese wird ADHS vornehmlich genetisch verursacht.
Schwerer Stress kann durchaus ADHS-Symptome verursachen. Diese Menschen leiden dann aber unter Stress und nicht unter ADHS. Der Unterschied ist: Bei Stress gehen die Symptome mit dem Stressor. ADHS bleibt. Um ADHS von schwerem Stress zu unterscheiden, verlangen DSM und ICD, dass die Symptome mehr als 6 Monate andauern und in verschiedenen Lebensbereichen auftreten. Und ebenso geben die Richtlinien aus diesem Grund vor, jährlich Auslassversuche bei der Medikation zu machen. War es nur Stress, und ist der Stressor vergangen, ist eine Medikation nicht mehr erforderlich. Dies ist allerdings ein Hinweis darauf, dass ADHS-Medikamente bei schwerem Stress ebenfalls hilfreich sein könnten - andernfalls hätte dies schon bei der Eindosierung auffallen müssen. Solange dies nicht zu einer unnötigen Medikation führt, ist eine Medikation bei schwerem Stress bei entsprechender Symptomschwere nicht zu beanstanden. Es sind immerhin dieselben Symptome, die so schwerwiegend sein können, dass ADHS-Betroffene hiervon anerkanntermaßen profitieren. Eine Medikation könnte dazu beitragen, die neurotoxischen Langzeitfolgen von schwerem Stress zu verringern.
Diese Sichtweise könnte erklären, warum die Wissenschaft sich so schwertut, die neurophysiologische Ursachen von ADHS im Gehirn zu erkennen. Wenn das Gehirn ohne adäquaten Stressor von ADHS-Betroffenen im Grunde so funktioniert, wie gesunder Maßen auch bei Nichtbetroffenen (wenn auch dort: nur in der Not- und Ausnahmesituation von schwerem (chronischem) Stress), ist die Funktionsweise des Gehirns bei ADHS nicht per se krankhaft - auch wenn der Dauerbetrieb des Gehirns in dem eigentlich nur für schweren Stress vorgesehenen Notmodus sicherlich Langzeitfolgen zeitigt.
Wenn die Wissenschaft also das Gehirn bei ADHS mit dem von Nichtbetroffenen (außerhalb von schwerem chronischem Stress) vergleicht, findet sie natürlich Unterschiede. Die Hypothese stellt nun die Frage, inwieweit die beobachteten Veränderungen wirklich ADHS abbilden, oder ob nicht lediglich (jedenfalls zu einem guten Teil) die Folgen des abweichenden Funktionsmodus des Gehirns beobachtet werden. Dann bestünde nämlich das Risiko, dass die Folgerungen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Praxis der ADHS-Behandlung fehlschlagen könnten. Beispielsweise wäre es ungesund, einem Gehirn die Fähigkeit zu nehmen, so zu funktionieren, wie es das im Stressnotmodus tut, der ja seinen Sinn hat.
Es gibt kaum Vergleiche und Untersuchungen am menschlichen Gehirn von Gesunden, wie dieses unter schwerem chronischem Stress funktioniert, weil dies zutiefst unethische Testbedingungen voraussetzen würde. Die Stressforschung muss sich mit kurzfristigen und nicht als ernsthaft bedrohlich wahrgenommenen Stressoren begnügen.
Nach der Hypothese von Ulrich Brennecke lässt sich ADHS also als (im Wesentlichen genetisch bedingte) dauerhafte Fehlregulation der Stresssysteme erklären, vornehmlich der HPA-Achse (Stressachse). Dabei ist die Fehlregulation der Stresssysteme nicht Ursache von ADHS, sondern die Folge von ADHS. Die Symptome von chronischem Stress wie von ADHS werden durch die gleichen Neurotransmitterverschiebungen vermittelt: einer Verringerung der Wirkung von (vornehmlich) Dopamin und Noradrenalin in bestimmten Gehirnbereichen.
Die Symptome können neurophysiologisch durch akuten Stress (hohe phasische DA und NE-Spiegel) oder eine Herabregulierung der tonischen DA- und NE-Spiegel durch chronischen Stress ausgelöst werden, da die Funktion der Gehirnbereiche mittlere Neurotransmitterspiegel benötigt und zu hohe oder zu niedrige Neurotransmitterspiegel sehr ähnliche Störungsbilder verursachen.
Stresssymptome sind keine Störung an sich, sondern zunächst einmal eine gesunde und nützliche Reaktionen zur Bewältigung bedrohlicher Situationen.
⇒ Stressnutzen – der überlebensfördernde Zweck von Stresssymptomen.
Soweit berichtet wird, dass ADHS-Betroffene sämtliche (oder zumindest viele) Symptome verlieren, wenn sie mehrere Wochen auf einer abgelegenen Berghütte (ohne Internet, Handy, Computer) verbringen, wobei bedauerlicherweise alle Symptome sofort wieder da seien, wenn die Betroffenen am ganz normalen Leben teilnehmen, würde sich dies nach der Hypothese schlüssig damit erklären, dass bei ADHS die Stresssysteme schon bei ganz normaler Alltagsbelastung so aktiviert werden, wie sie es bei Nichtbetroffenen erst unter bedrohlichem schwerem Stress sind.
Bestimmte Gene oder frühkindlicher lang anhaltender Stress verschieben u.a. das Verhältnis zwischen Mineralocorticoidrezeptoren und Glucocorticoidrezeptoren (sei es die Expression oder die Empfindlichkeit der Rezeptoren), wodurch der Schwellwert, ab dem die HPA-Achse und andere Stresssysteme anspringen und wieder abschalten, gestört wird. Veränderungen bei der Ausschüttungsreaktion von Neurotransmittern und Stresshormonen tragen ebenfalls hierzu bei. Diese werden beispielsweise durch eine lang anhaltend zu hohe Ausschüttung von bestimmten Stress-Neurotransmittern, -Hormonen und -Peptiden verursacht, die zu einer Downregulation der entsprechenden Rezeptoren und/oder Transporter führen.
ADHS ist durch einen Dopamin- und Noradrenalinmangel in PFC und Striatum gekennzeichnet. Dopaminmangel korreliert mit einer Erhöhung der Dopamintransporteranzahl, wie sie ebenfalls bei ADHS typisch ist. Während akuter Stress DA und NE im PFC erhöht, kann chronischer Stress je nach Stressor und Alter des Eintritts eine Verringerung der DA- und NE-Spiegel bewirken.
Bei ADHS-HI führt nach der Hypothese von Ulrich Brennecke eine abgeflachte endokrine Stressantwort aufgrund der damit verbunden abgeflachten Cortisolstressantwort zu einer mangelhaften Abschaltung der HPA-Achse, die normalerweise am Ende der Stressreaktion durch Cortisol wieder abgeschaltet würde. Dies bewirkt einen Dauerzustand von Stress, der sich im ADHS-HI-typischen (und ADHS-I-untypischen) Zustand der Erholungsunfähigkeit zeigt.
Bei ADHS-I könnte nach der Hypothese die überhöhte endokrine Stressantwort zur häufigen Überaktivierung (leichter Noradrenalinanstieg) und dann Abschaltung des PFC (starker Noradrenalinanstieg; Folge: Denkblockaden, Entscheidungsschwierigkeiten) führen. Durch die deutliche Cortisolstressantwort kommt es zu einer sauberen Abschaltung der HPA-Achse, was Noradrenalin- und Dopaminspiegel wieder herunterfährt und die Blockade des PFC wieder beseitigt.
Vermutlich aufgrund des häufigen Wechsels zwischen Überaktivierung und Abschaltung des PFC besteht kein so durchgehender Dopaminmangel wie bei ADHS und daher auch keine so ausgeprägte Erhöhung der DAT. Die überhöhte Cortisolstressantwort führt zu einem häufigen Wechsel von Aktivierung und Deaktivierung der Stresssysteme (z.B. HPA-Achse).
Die Hypothese stützt sich weiter darauf, dass fast alle typischen ADHS-Symptome bei schweren lebensbedrohlichen Umständen funktionalen Nutzen haben. Beispielsweise macht es bei schwerem chronischem Stress Sinn, dass extrinsische Reize weniger interessant erscheinen und die Motivation sich in Richtung der Deckung persönlicher Interessen verschiebt, da dies im Falle eines (lebens)bedrohlichen Stressors beim Überleben hilfreich ist.
Mehr hierzu unter ⇒ ADHS als chronifizierte Stressregulationsstörung.
3. Ursachenorientierte Erklärungsmodelle¶
Weitere Erklärungen versuchten, die Ursachen von ADHS zu beschreiben.
3.1. Ernährungsfolgen / Nahrungsmittelunverträglichkeiten¶
ADHS wird nicht kategorial durch Nahrungsmittel oder Zusätze hervorgerufen.
Nahrungsmittelunverträglichkeiten können jedoch als Stressoren die Intensität von ADHS erhöhen, oder bei Betroffenen, die ein so schwaches ADHS haben, dass es ohne zusätzliche Stressoren nicht störend auftritt (Stichwort: dimensionale Störung), dieses an sich so noch nicht vorhandene ADHS in den pathologischen Bereich hinein verstärken.
Dies ist kein allein auf ADHS zutreffendes Muster: auch bei anderen psychischen Störungen kann eine Ausschaltung von Nahrungsmittelunverträglichkeiten die Symptomintensität verringern oder beseitigen.
Die Effektstärke der Beseitigung einer bestehenden Nahrungsmittelunverträglichkeit ist mit ca. 0,25 allerdings ganz erheblich geringer als die von Medikamenten (bis zu 1,1).
Siehe hierzu den Beitrag ⇒ Ernährung und Diät bei ADHS.
3.2. Dopamin als Ursache von ADHS¶
3.2.1. Zu geringer Dopaminspiegel¶
Neurologisch lässt sich ADHS zutreffend als Neurotransmitterstörung in bestimmten Gehirnbereichen, vornehmlich Dopaminmangel im Striatum (Belohnungs-/Verstärkungssystem) beschreiben.
Die Betroffenen der Enzephalitis-Epidemie 1914 bis 1917 zeigten im weiteren Verlauf typische Symptome von ADHS. Kinder entwickelten hyperaktive Motorik, Erwachsene Parkinsonsymptome. Enzephalitis zerstört die Zellen in der Substantia Nigra, die Dopamin herstellen. Diese Ursache konnte in Tierexperimenten als Auslöser der Symptome reproduziert werden. Die Symptome sind also Folgen eines Dopaminmangels.
Da ein Dopaminmangel verschiedene Ursachen haben kann, ist eine saubere Differentialdiagnostik erforderlich. Bei einer ADHS-Diagnostik ist beispielsweise stets auch eine Enzephalitis auszuschließen.
Ebenso sind bei Parkinsonpatienten die Zellen der Substantia Nigra beschädigt, wodurch die Konzentration von Dopamin um bis zu 90 Prozent sinkt. Dies bewirkt motorische Beeinträchtigungen wie Rigor, Tremor und Akinese. Depression ist bei Parkinsonpatienten um ein Vielfaches häufiger, was ebenfalls auf den dopaminergen Mangel zurückzuführen sei.
Doch wenn man das genauer nimmt, wird es schon wieder kompliziert.
Dopaminmangel ist zwar die klarste Ursache, die in der Folge viele Symptome erklärt.
Doch erstens sind auch andere Neurotransmitter im Ungleichgewicht, vor allem Noradrenalin, wenn auch weniger ausgeprägt als Dopamin. Daneben sind untergeordnet Serotonin, Acetylcholin, GABA und andere Neurotransmitter involviert. Dabei ist unklar, ob die Ungleichgewichte der anderen Neurotransmitter eine eigene Ursache haben, oder ob sie eine Folge des Dopaminmangels sind. Dopamin hat neben der eigenen Neurotransmitterfunktionen auch die Rolle einer Prodrug (Vorstoffes) von (Nor-)Adrenalin.
Ist ein Neurotransmitter im Gehirn nicht in der optimalen Menge vorhanden, ist die Signalübertragung im Gehirn gestört. Dies gilt bei einem “zu wenig” genauso wie bei einem “zu viel”.
Die Symptome sind dann weiter abhängig davon, welche Neurotransmitter zu viel oder zu wenig vorhanden sind (oder stärker oder geringer wirken, z.B. weil Rezeptoren (un-)sensibler sind) und in welchem Gehirnbereich dies aufritt.
Jeder Neurotransmitter hat bestimmte Hirnregionen, in denen er eine besondere Rolle spielt.
Ebenso haben die einzelnen Hirnregionen verschiedene Funktionen und sind untereinander vernetzt.
Mit diesen beiden Dimensionen (welcher Neurotransmitter, welche Hirnregion) können einzelne Symptome von ADHS bestimmten Hirnregionen zugeordnet werden.
Dies ist deshalb wichtig, weil jeder ADHS-Betroffene seine eigene Mischung an Symptomen und Symptomintensität hat. Wenn man versteht, welches Symptom durch welchen Neurotransmitter in welcher Hirnregion ausgelöst wird, eröffnet dies Verbesserungsmöglichkeiten in der Behandlung.
Dopaminmangel bewirkt die Symptome – aber ist es auch die Ursache?
Die wichtigsten Symptome von ADHS werden ganz überwiegend durch einen Dopaminmangel im PFC und Striatum bewirkt. Um das so einfach zu formulieren, werden Effekte einer Verringerung der Dopaminrezeptoren an der Postsynapse in dieses Bild hineingenommen.
Eine Erhöhung des Dopaminspiegels im dlPFC behebt die Probleme des Arbeitsgedächtnisses und damit der Exekutivfunktionen, eine Erhöhung von Dopamin im Striatum behebt die ADHS-Symptome der mehr interessengeleiteten Lenkung der Aufmerksamkeit, u.a. auf irrelevante Reize, der Motivation und der Hyperaktivität und Impulsivität.
Dennoch gibt es starke Hinweise darauf, dass der Dopaminmangel nicht die eigentliche Ursache ist, sondern lediglich Folge eines anderweitig bestehenden Problems.
Tatsache ist, dass es ADHS-Betroffenen nicht an der Fähigkeit mangelt, sich konzentrieren zu können. Das Phänomen des Hyperfokus, das nahezu jeder ADHS-Betroffene plastisch beschreiben kann, beweist, dass die grundsätzliche Fähigkeit zur Konzentration, Daueraufmerksamkeit und Nichtablenkbarkeit vorhanden ist. Das eigentliche Problem liegt in der mangelhaften Steuerbarkeit der Motivation für den Betroffenen.
Da die ADHS-Symptome im Zustand des Hyperfokus weitgehend eliminiert sind, vermuten wir, dass im Zustand des Hyperfokus kein Dopaminmangel im Striatum mehr besteht.
Untersuchungen zum Bestand der einzelnen Symptome im Hyperfokus sind diesseits nicht bekannt. Die uns vorliegenden und beeindruckend einstimmigen Aussagen Betroffener deuten darauf hin, dass zumindest die Dimensionen Konzentration, Aufmerksamkeit, Ablenkbarkeit, Frustrationstoleranz und Stimmung im Zustand des Hyperfokus recht eindeutig keine Diagnosekriterien erfüllen würden. Dieses Phänomen führt beispielsweise weiter dazu, dass manche Betroffene in ADHS-Tests nicht erkannt werden – und zwar deshalb, weil sie sich für die Tests sehr interessieren. Dieses starke persönliche Interesse schafft einen Zustand von Hyperfokus, in dem die Testergebnisse nicht die im normalen Leben bestehenden Aufmerksamkeitsdefizite widerspiegeln.
Wir halten es daher für denkbar, dass eine übergeordnete Instanz oder ein anderweitiger Mechanismus existiert, die bei intrinsischem Interesse den (phasischen) Dopaminspiegel im Striatum anhebt und bei Desinteresse (aufgezwungenes Interesse, extrinsisches Interesse) den Dopaminspiegel fallen lässt. Nach unserer Hypothese ist bei ADHS-Betroffenen die Steuerung dieser Instanz beeinträchtigt. Im Rahmen einer (bedrohlichen) Stressreaktion macht die Veränderung der Steuerung dagegen Sinn und ist überlebensförderlich.
⇒ Stressnutzen – der überlebensfördernde Zweck von Stresssymptomen
3.2.2. Tonisches und phasisches Dopamin¶
Es gibt verschiedene Modelle, wie Dopamin ADHS beeinflusst.
Gemeinsam gehen sie von einem reduzierten Dopaminspiegel in verschiedenen dopaminergen Regelkreisen aus, was zu Defiziten in Verstärkung und Löschung von Verhaltensweisen führt.
3.2.2.1. Die dynamische Entwicklungstheorie¶
Die dynamische Entwicklungstheorie basiert auf der Hypothese, dass die veränderte dopaminerge Funktion eine zentrale Rolle spielt, indem sie die nichttransaminergische (primär Glutamat- und GABA-) Signalübertragung nicht angemessen moduliert. Dabei sind drei dopaminerge Netzwerke beeinträchtigt.
3.2.2.1.1. Der mesolimbische Dopaminpfad¶
Eine Störung in diesem System bewirkt veränderte Verhaltensverstärkung und mangelhafte Verhaltenslöschung.
Dies führt zu
- Verzögerungsaversion
- Hyperaktivität in neuartigen Situationen
-
Impulsivität
- mangelhafter Daueraufmerksamkeit
- erhöhter Verhaltensvariabilität
- Versagen der “Hemmung” von Reaktionen (“Enthemmung”)
3.2.2.1.2. Der mesokortikale Dopaminpfad¶
Ein Problem in diesem System bewirkt
- Aufmerksamkeitsdefizite
- mangelhafte Orientierungsreaktionen
- beeinträchtigte sakkadische Augenbewegungen (schnelle unwillkürliche Blicksprünge)
- schlechtere Aufmerksamkeitsreaktionen auf ein Ziel
- schlechte Verhaltensplanung
- schlechte exekutive Funktionen
3.2.2.1.3. Der nigrostriatale Dopaminpfad¶
Funktionsbeeinträchtigungen in diesem System bewirken
- gestörte Modulation der motorischen Funktionen
- Mangel an nichtdeklarativem Gewohnheits-Lernen und Gedächtnis.
Diese drei Beeinträchtigungen gemeinsam führen zu
- einer offensichtlichen Entwicklungsverzögerung
- Ungeschicklichkeit
- neurologischen “sanften Zeichen” und
- einem “Versagen, die Reaktionen zu hemmen”, wenn schnelle Reaktionen erforderlich sind.
Nach der dynamischen Entwicklungstheorie bestimmen hypofunktionale Dopaminnetzwerke maßgeblich die individuellen Prädispositionen. Demnach resultieren Verhaltensprobleme und Symptome von ADHS aus einem Zusammenwirken von (genetischer) Disposition und Umwelteinflüssen. Die jeweiligen ADHS-Symptome der Betroffenen verändern sich über die Lebenszeit. Veränderte oder unzulängliche Lern- und Motorfunktionen machen optimalen Elternstile und Umgangsweisen besonders wichtig. Medikamente können die zugrunde liegende Dopamin-Dysfunktion bis zu einem bestimmten Grad normalisieren und die erhöhten Anforderungen (Bedürfnisse) dieser Kinder reduzieren. Die Theorie beschreibt, wie individuelle Prädispositionen mit diesen Bedingungen interagieren, um Verhaltens-, emotionale und kognitive Effekte hervorzurufen, die zu relativ stabilen Verhaltensmustern werden können.
3.2.2.2. Verringerte tonische Dopaminfreisetzung erhöht phasische Dopaminausschüttung¶
Diese Theorie besagt, dass eine verringerte tonische Freisetzung von Dopamin als Feedbackmechanismus zu einer reduzierten Stimulation präsynaptischer Autorezeptoren und damit zu einer erhöhten phasischen Dopaminausschüttung führt.
Extrazelluläres Dopamin ist das Ergebnis einer tonischen oder phasischen Dopaminfreisetzung. Neben der tonischen Ausschüttung von Dopamin (in eher geringen Mengen) über Varikositäten direkt in den extrazellulären Raum wird bei einem (phasischen) Dopaminburst eine große Menge Dopamin in den synaptischen Spalt ausgeschüttet, von wo es in den Extrazellulärraum diffundiert.
Phasisches Dopamin erhöht Affekt und Ablenkbarkeit.
Ein ähnlicher Mechanismus besteht in der Wechselwirkung des Dopaminlevels zwischen PFC und dem Striatum. Stress erhöht den Dopaminspiegel im PFC. Mäßige Erhöhungen verbessern die Leistungsfähigkeit des PFC, starke Erhöhungen schwächen sie und schalten den PFC ab. Ein erhöhter Dopaminspiegel im mPFC bewirkt einen verringerten Dopaminspiegel im Striatum. Mehr hierzu unter ⇒ Die neurologische Erklärung von Antriebs- und Motivationsproblemen.
3.2.3. Dopamin-Transfer-Defizit-Modell (DTD; Tripp und Wickens, 2008)¶
Die Dopamin-Transfer-Defizit-Theorie (DTD) erklärt ADHS mittels einer abgeschwächten phasischen Dopaminreaktion auf Hinweise (Prädiktoren), die eine Belohnung erwarten lassen, zu erwartende Belohnungen, was eine veränderte Verstärkungssensitivität bewirke.
Erhalten Gesunde eine Belohnung wiederholt gleichzeitig mit einem Prädiktor, beginnen die Dopamin-Neuronen auf den Prädiktor und die Belohnung zu feuern. Ist die Beziehung zwischen Belohnung und Prädiktor eindeutig (gelernt), feuert Dopamin nur noch auf den Prädiktor.
Bei ADHS ist das Feuern der Dopaminzellen abnormal. Selbst wenn Belohnung und Prädiktor lange genug gemeinsam erschienen, um erlernt worden zu sein, zeigen ADHS-Betroffene immer noch eine zu niedrige Feuerrate nach dem Hinweis und eine erhöhte Feuerrate nach der eigentlichen Belohnung.
Das bei ADHS weniger effiziente Lernen wird auch mit einer verzögerten Reaktion auf eine unmittelbare Belohnung in Verbindung gebracht. Eine schwächere Konditionierung auf die Belohnung führt zu einer schnelleren Löschung des Verhaltens und einer schwächeren Auswirkung der Verstärker auf das Verhalten über längere Zeiträume. Die fehlende antizipatorische Dopaminsignalisierung des Hinweises bewirkt eine schnellere Verhaltensextinktion, wenn die Verstärkung verzögert oder unterbrochen wird. Dies würde einige Kernsymptome von ADHS erklären, darunter die Abwertung verzögerter Belohnungen.
3.2.4. ADHS als Entwicklungsstörung dopaminerger Gehirnbahnen¶
Das Gehirn besteht aus verschiedenen Bereichen, die sich im Laufe der Entwicklung der Säugetiere zu unterschiedlichen Zeiten entwickelt haben. Innerhalb dieser Gehirnbereiche sind wiederum lokale Areale abgrenzbar, die anhand von Stoffwechsel, Kommunikationsarten, Neurotransmitterbasierung, spezifischer Funktionen und Bedeutungen sowie ihrer Kommunikationsverbindungen mit anderen Gehirnarealen gut abgegrenzt werden können. Diese 52 Areale wurden bereits 1909 von Brodmann beschrieben (Brodmann-Areale).
Bei Kindern, die an ADHS leiden, sind einzelne Gehirnbereiche in der Entwicklung verzögert. Diese Entwicklungsverzögerung wird durch die oben genannten Wurzeln ausgelöst. Dabei ist nicht jede Entwicklungsverzögerung gleichermaßen störungsrelevant. Die Störung der Entwicklung der vom Nucleus accumbens ausgehenden dopaminergen Bahnen (die durch frühkindlichen Stress ausgelöst werden kann), ist ein klares ADHS-Problem, während die (erhebliche) Verzögerung der Entwicklung des ersten Maximums der Cortexdicke bei ADHS recht exakt der Entwicklungsverzögerung bei Hochbegabung entspricht, die eher nicht als psychische Störung zu betrachten ist.
Etwas Ähnliches passiert – in schwächerer Form – während der Pubertät. Die Pubertät ist die Zeit, in der das Gehirn sich besonders schnell entwickelt. Die typischen Pubertäts-Symptome ergeben sich ebenfalls daraus, dass einzelne Gehirnbereiche sich in der Pubertät nicht so schnell entwickeln wie andere und ein Ungleichgewicht der sich gegenseitig regelnden und kontrollierenden Gehirnbereiche entsteht. Zum Ende der Pubertät haben die verspätet reifenden Gehirnbereiche die Entwicklung “nachgeholt” – die Pubertäts-Symptome verschwinden.
Die bei ADHS betroffenen Areale kommunizieren vorrangig mittels der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin (sowie nachrangig mittels Serotonin). Von den dopaminergen Bahnen des Gehirns ist bekannt, dass ihre Entwicklung durch externe Belastungen verzögert werden kann.
3.2.4.1. Die Reifung der dopaminergen Leitungsbahnen¶
Die zentrale dopaminerge Schaltstelle im Gehirn ist der Nucleus accumbens im Striatum. Er vermittelt zwischen emotionalen und motorischen Reizen.
Die folgende Darstellung basiert maßgeblich auf der Arbeit von Lesting.
Während der ersten Lebensjahre, in denen sich das System der monoaminergen Neurotransmitter entwickelt und reift, reagiert dieses besonders verletzlich auf pharmakologische und umweltinduzierte Störungen.
Der Nucleus accumbens ist die Schaltzentrale zwischen dem limbischen System und der motorischen Steuerung. Viele psychische Störungen werden durch Defekte des Nucleus accumbens verursacht.
Dopamin und Serotonin sind die zentralen Neurotransmitter, die die Funktionen des Nucleus accumbens steuern.
Der Nucleus accumbens wird vom limbischen System, dem PFC, der Amygdala und dem Hippocampus adressiert. Eine Störung dieser Signaleingänge führt zu Ablenkungsproblemen, weil irrelevante Wahrnehmungen nicht mehr ausgeblendet (inhibiert) werden können.
Wird die Reifung der dopaminergen Bahnen, die vom Nucleus accumbens ausgehen, in der Zeit ihrer Entwicklung gestört, führen die daraus resultierenden Schäden zu dauerhaften Problemen der Verarbeitung von sensomotorischen Reizen bis ins Erwachsenenalter.
Dabei ist der Zeitpunkt der Störung entscheidend. Erfolgt die Störung in dem prä- und postnatalen Zeitfenster der Reifung der betroffenen Hirnregion, führt dies zu einer wesentlich intensiveren Schädigung.
Dopamin und Serotonin wirken in der Phase der Reifung nicht nur als Neurotransmitter, sondern auch als morphogene Substanzen, die die Strukturierung von Nervennetzen unmittelbar beeinflussen.
3.2.4.2. Nachreifung des Gehirns?¶
Das menschliche Gehirn ist nicht mit der Geburt, nicht mit der Kindheit und auch nicht mit der Geschlechtsreife ausgereift.
Die vollständige Ausreifung des PFC dauert mindestens bis zum 23. – 25. Lebensjahr.
Dass der PFC an etlichen ADHS-Symptomen beteiligt ist, erklärt, warum die ADHS über die Lebenszeit verändert und bei Erwachsenen schließlich verschwinden kann oder ein deutlich verändertes Symptombild zeigt.
Bei ADHS ist die Entwicklung des PFC gestört, sodass dieser verspätet vollständig (Symptome verschwinden im Erwachsenenalter) oder nicht vollständig (Symptome verringern sich im Erwachsenenalter) ausreift. Bis zum Erwachsenenalter kann das Gehirn mancher Betroffenen die Entwicklungsverzögerung (teilweise) aufholen. Mehr zu ADHS als Gehirnentwicklungsstörung unter *⇒ Gehirnentwicklungsstörung und ADHS
In der Adoleszenz (Jugend) haben noch ca. 80 % der Betroffenen die Symptome. Bei den übrigen 20 % könnten die betroffenen Gehirnareale im ausreichenden Maße nachgereift sein.
Im Erwachsenenalter haben noch rund 50 % der als Kind Betroffenen ADHS-Symptome, die jedoch eine andere Form haben.
Durch die (teilweise) Nachentwicklung der betroffenen Gehirnareale schwächen sich die Symptome ab und verändern sich. Während ein ADHS-HI-Kind (mit Hyperaktivität) bei starker Ausprägung nicht ruhig sitzen bleiben kann und ständig in Bewegung sein muss (fehlende Inhibition des Impulses der Aktivität), ändert sich das im Erwachsenenalter dahin, dass noch eine innere Unruhe bleibt, die sich nicht mehr zwingend körperlich bemerkbar macht. Es bleibt der Impuls, immer etwas tun zu müssen. Meditation, Achtsamkeit, stille halten, ohne etwas tun zu können, ist für diese Betroffenen sehr schwierig (bis hin zur Wahrnehmung als Folter). Schaffen sie es dennoch, ist es hochwirksame Therapie, da dies das Symptom der Erholungsunfähigkeit durchbricht, das andernfalls den Teufelskreis der Stresssymptome aufrechterhält.
Grundsätzlich ist die epigenetische Veränderung in Genen mittels Methylierung in jedem Alter möglich. Selbst kurzzeitiger Sport bewirkt Methylierungen in den Muskeln. Erfahrungen in der Kindheit bewirken jedoch länger anhaltende Methylierungen als Erfahrungen im Alter.
3.3. Dysfunktion im anterioren cingulären Cortex¶
Eine Dysfunktion im anterioren cingulären Cortex kann bei ADHS zu Angst, emotionaler Instabilität und Hyperaktivierung führen.
4. Komplexere neurologische Modelle¶
4.1. Kognitiv-energetisches Modell nach Sergeant (2000)¶
Das kognitiv-energetische Modell nimmt einen Mangel an kortikaler Gesamtaktivierung aufgrund einer Dysfunktion des aufsteigenden retikulären Systems des Hirnstamms an. Es stellt auf Arousal, Aktivierung und Anstrengungsbereitschaft ab.
- Aktivierung: „allgemeine Wachheit“; tonisch-physiologische Bereitschaft, zu reagieren
-
Arousal: phasische Reaktionsbereitschaft in Erwartung relevanter Reize
- Anstrengungsbereitschaft
- Folgen: Auswirkungen auf primären Stufen von Verarbeitung und Verhalten, z.B. Entschlüsselung, zentrale Verarbeitung, Antwort- und Reaktionsorganisation
Studien belegen, dass Kinder mit ADHS-HI bei langsamer Ereignisrate schlechtere Leistungen erbringen, während ihre Ergebnisse bei spannenden, fordernden Aufgaben mit den Leistungen Nichtbetroffener vergleichbar waren. Als Ursache wird eine zu geringe Aktivierung des Arousals vermutet.
Für ADHS-Betroffene ist es daher (insbesondere in der Schule und anderen Lernsituation) ganz besonders wichtig, aktiv angesprochen und motiviert zu werden. Aufgaben sollten in kleine Teile aufgeteilt werden. Es muss unmittelbar und sofort gelobt/verbessert werden (Verstärkung, die zeitlich nicht unmittelbar mit der Handlung zusammenfällt, ist wirkungslos).
4.2. 2 bzw. 3 – Ursachen Modell nach Sonuga-Barke (Dual-Pathway / Triple-Pathway)¶
2 bzw. 3 Entwicklungspfade
-
kognitiver Pfad
Beeinträchtigung des mesokortikalen Systems
dorsales Striatum und dorsolateraler (hinterer seitlicher) präfrontaler Cortex
Folge: Exekutivfuktionen beeinträchtigt, u.a. mangelnde Inhibition, kognitive Dysregulation, Verhaltensdysregulation
-
motivationaler Pfad
Beeinträchtigung des mesolimbischen Systems
ventrales Striatum (hier vornehmlich Nucleus accumbens)
frontale Regionen (incl. anteriores (vorderes) Cingulum und orbitofrontaler Cortex)
Amygdala
Folge: Belohnungsprobleme, insbesondere Verzögerungsaversion und Abneigung gegen Belohnungsaufschub.
Nach Sonuga-Barke sind drei getrennte Regelkreise unabhängig voneinander für unterschiedliche Störungen und Symptome des ADHS verantwortlich:
- der mesokortikale Regelkreis
für Störungen von Hemmung und Inhibition,
- der mesolimbische Regelkreis
für Störungen des Belohnungssystems und
- das Kleinhirn (Cerebellum)
für Störungen der Zeitverarbeitung.
Die ADHS-typische Verzögerungsaversion (Delay Aversion) und Inhibitionsprobleme (die in der Folge eher zu Hyperaktivität führen sollen) seien nach diesem Modell auf jeweils eigene, voneinander unabhängige neurologische Wirkungsmechanismen zurückzuführen.
Delay Aversion soll mit der als Chance-Risiko-Gen-Variante DRD4-7R korrelieren, die bei Hochsensibilität sowie bei vielen Störungen, unter anderem bei ADHS, involviert ist.
Sonuga-Barke hat sein erstes Modell (Dual-Pathway) später zu einem Triple-Pathway-Modell erweitert, da bei ADHS neben Inhibitionsproblemen und Verzögerungsaversion auch Zeitverarbeitungsprobleme durch jeweils eigene neurologische Wirkmechanismen verursacht werden.
Das Modell stützt sich auf Untersuchungen, wonach ADHS-Betroffene mit Symptomen aus einem der 3 Bereiche nicht zwingend auch Symptome aus einem der anderen Bereiche aufweisen müssen, während nicht von ADHS-betroffene Zwillinge der (ADHS-betroffenen) Probanden in jeweils genau den Bereichen, aus denen die Symptome der Betroffenen erwuchsen, ebenfalls auffällig waren.
4.3. 3 Endophänotypen nach Castellanos und Tannock¶
Quelle
- Probleme im Belohnungssystem
- Probleme bei der zeitlichen Verarbeitung
- Störungen des Arbeitsgedächtnisses
Bei ADHS besteht nach dieser Darstellung eine Dysfunktion des präfrontal-striato-thalamischen Systems aufgrund kleinerer Gehirnvolumen im Bereich des Cerebellums (hemisphärisch) sowie Veränderungen in rechten präfrontalen Hirnregionen, dem Nucleus caudatus, dem Pallidum, und eines Teilbereichs des Kleinhirnwurmes.
4.4. 4-Kategorien-Modell nach Hunt¶
Quelle
-
Störung der selektiven Aufmerksamkeit
Ursache: dopaminerge Dysfunktion in
-
Nucleus accumbens
- kortikalen Integrationsregionen
- exzessives Arousal
- Auswirkung:
- Aggressivität
-
Impulsivität
- Aufmerksamkeitsstörungen
- Ursache: noradrenerge Hyperaktivität in
-
Locus coeruleus
- retikuläres Aktivierungssystem
- behaviorale Disinhibition bzw. Impulsivität/Hyperaktivität
Ursache: serotonerg-dopaminerge Dysfunktion in
-
PFC
- subkortikalen Regionen
- Probleme im Belohnungssystem
- gestörte Affektregulation
- Anhedonie
4.5. Verringerte Inhibition / Überaktivität des Default Mode Networks (DMN)¶
Quelle
- Das Default Mode Network (DMN) ist ein Netzwerk, das mehrere Gehirnbereiche umfasst
- Ventrolateraler und ventromedialer PFC
- Posteriorer cingularer Cortex (PCC)
- Cuneus
- Inferiore Parietallappen
- Bei ADHS wurde eine reduzierte negative Korrelation zwischen DMN und Task-aktiven Netzwerken beobachtet.
Es wurde vermutet, dass Unaufmerksamkeit bei ADHS durch eine mangelhafte Unterdrückung des DMN entsteht (Tagträume).
- Eine Metaanalyse von 55 Task-Based fMRI-Studien zu ADHS ließ als konsistentestes Ergebnis vermuten, dass bei ADHS bei kognitiven Aufgaben eine überhöhte Aktivität im DMN und eine verringerte Aktivität in den Task-positiven frontoparietalen und ventralen Aufmerksamkeitsnetzwerken besteht.
- Eine verringerte Aktivität im DMN bewirkt langsamere und unterschiedlichere Antworten was auf erhöhte neurales Rauschen hindeutet.
- Methylphenidat verstärkt die Inhibition des DMN.
4.5. Rolandische Wellenspitzen und epileptoforme EEG-Abnormitäten¶
Rolandische Wellenspitzen (spikes, sharp waves) wurden bei 1,7 % aller ADHS-Betroffenen gefunden. Rolandische Wellenspitzen bei ADHS berichtet auch Duane.
Epileptiforme EEG-Abnormitäten wurden bei 5,4 % aller ADHS-Betroffenen ohne Epilepsiebefunde festgestellt und korrelierten signifikant mit dem weiblichen Geschlecht und dem ADHS-I-Subtyp.