Die Gehirnhemisphären, die linke und die rechte Seite des Gehirns, sind nicht lediglich “Sicherheitsbackups” für die Funktion der anderen Hälfte. Sie haben unterschiedliche Funktionen bzw. Funktionsschwerpunkte. Sie sind durch das Corpus callosum miteinander verbunden.
Bei den meisten Menschen ist die linke Hemisphäre dominanter. Die rechte Hemisphäre ist stärker mit emotionaler Verarbeitung, der Erkennung von Emotionen und Stressreaktionen verbunden.
Eine Trennung der Hemisphären durch eine Operation hat zwar nur geringe Auswirkungen auf das Funktionieren im täglichen Leben, kann aber zu einem Verlust emotionaler Fähigkeiten (bis hin zur Alexithymie) oder der symbolischen Vorstellungskraft führen und geht oft mit einer verringerten Cortisolstressreaktion einher.
Eine posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) bewirkt häufig einen Verlust des Austauschs von Informationen zwischen den Hemisphären. Bei Borderline-Persönlichkeitsstörung wird vermutet, dass die Unfähigkeit der Integration von positiven und negativen Wahrnehmungen auf eine gestörte Kommunikation zwischen den Hemisphären zurückgeht.
Eine gestörte Bindung zwischen Säugling und Mutter oder ein früher Kindesmissbrauch können zu einer Beeinträchtigung der rechten Hirnhälfte führen und sich negativ auf die Bindungsfähigkeit und die sozialen Fähigkeiten auswirken.
Der folgende Beitrag beruht derzeit maßgeblich auf einem Review von Henry.
1. Rechte und linke Gehirnhemisphäre¶
Menschen mit einer funktionellen oder chirurgischen Trennung der Verbindung der Gehirnhemisphären (chirurgisch: Kommissurotomie, Callosotomie, eine ultima ratio bei Epilepsie) funktionieren in den meisten Alltagssituationen unauffällig. Eine Kommunikation der Gehirnhemisphären ist hilfreich, aber nicht lebensnotwendig. Die meisten Menschen sind von einer Dominanz einer der beiden Hemisphären geprägt.
Eine Trennung der Gehirnhemisphären bewirkt neben Alexithymie einen subtilen Verlust emotionaler Fähigkeiten, z.B. hinsichtlich symbolischer Vorstellungskraft. PTSD geht oft mit Alexithymie sowie einem Verlust des Austausches von Informationen über taktile Reize zwischen den Gehirnhälften einher.
Es wurde postuliert, dass die Unfähigkeit der Integration von positiven und negativen Wahrnehmungen über Personen (schwarz/weiss-Denken) bei Borderline die Folge einer PTSD sein könne, die die Kommunikation zwischen den Gehirnhälften behindert. Bei PTSD wurden Unterschiede in der Wahrnehmung des rechten und linken Gehörs festgestellt, die auf eine Störung des Austauschs der Gehirnhemisphären durch das traumatische Erlebnis zurückgeführt werden.
Gott et al beschreiben eine Probandin, die willentlich zwischen zwei Zuständen wechseln konnte. In einem durch EEG-Daten und Task-Performance-Scores belegten linkshemisphärischen Zustand war sie eine Geschäftsfrau, die sich an geschäftlichen Planungen und Treffen mit Menschen erfreute, während sie in einem rechtshemisphärischen Zustand es genoss, zu gärtnern, entspannt zu sein, oder eine erotischen Stimmung mit einem intimen Freund zu erleben.
Die Gehirnhemisphären haben in Bezug auf Aufmerksamkeit unterschiedliche Aufgaben:
- rechte Hemisphäre:
- Aufrechterhaltung der Wachheit
- Verarbeitung neuer Reize
- linke Hemisphäre
- fokussierte Aufmerksamkeit
- selektive Aufmerksamkeit
1.1. Die rechte Gehirnhemisphäre¶
Die rechte Gehirnhemisphäre ist
- meist die nicht dominante Hemisphäre
- scheinbar gegenüber traumatischen Einflüssen verletzlicher als die linke
- vermutlich aufgrund ihrer engeren Verbindung mit dem limbischen System
- enger mit dem autonomen Nervensystem verbunden
- vorherrschende Rolle bei
- physiologischen und kognitiven Aspekten der emotionalen Verarbeitung
- Emotionen
- Erkennung von Emotionen
- Emotionsverständnis
- Erkennung subtiler emotionaler Ausdrücke
- Erkennung emotionaler Gesten
- Reichtum des Gefühlslebens
- Kontrolle des Gesichtsausdrucks
- Kontrolle der Sprachmelodie (Prosodie)
- Musikverständnis
- Verständnis der Körpersprache
- Verarbeitung negativen Emotionen
- Steuerung der HPA-Achse (Stress-Achse) und des autonomen Nervensystems (dem zweiten wichtigen Stressregulationssystem)
- Ekel (rechts frontal und anterior)
- während Zufriedenheit mit Aktivität der linken Hemisphäre anterior temporal korreliert
- Zusammenhänge (Wald erkennen, nicht nur Bäume)
- Verbildlichung von Wahrnehmungen
- nonverbales Verständnis
- Geistesblitze
- Gedankensprünge
- Tagträume
- in der Etablierung des Gefühls, dass Objekte wie Familienbesitz und Haustiere persönlich vertraut sind. Erfassung und Pflege personenbezogener relevanter Entitäten wie “vertraute” Gesichter, Personen, Stimmen, Namen, sprachliche Ausdrücke, Handschrift, Topographie.
- Trost
-
Alexithymie-Betroffene verwenden seltener tröstende Strategien als Nichtbetroffene, PTSD-Betroffene dagegen häufiger.
- affektive Reaktionen auf Sprichwörter und Redewendungen, Umschreibungen, emotionale Ausdrücke, Flüche und Slang
- dominanter in Bezug auf Aktivierung konditionierter Furchtreaktion via Amygdala
- rechte Amygdala ist stärker an der Speicherung von furchterregenden Gesichtern und an der Ausprägung der emotional beeinflussten Erinnerung an aversive Erfahrungen beteiligt
- Stressreaktionen und emotionalitätsbezogene Prozesse scheinen eng mit der rechten Gehirnhälfte verknüpft zu sein.
- Früher Missbrauch in den ersten 2 Lebensjahren führt häufig zu desorganisiert-unsicherer Bindung, die sich psychologisch als Unfähigkeit zeigt, eine kohärente Strategie zur Bewältigung von Beziehungsstress zu entwickeln. Früher Missbrauch wirkt sich negativ auf die Entwicklung der rechten Hirnhälfte aus, die für Bindung, Affektregulation und Stressmodulation zuständig ist, und legt damit eine Schablone für die Bewältigungsdefizite von Geist und Körper, die die PTBS-Symptomatik charakterisieren.
- Die rechte Gehirnhälfte ist an der Bindung des Säuglings an die Mutter und im späteren Leben an andere Menschen beteiligt.
- Kinder mit rechtshemisphärischen Schäden verlieren wichtige soziale Fähigkeiten
Dies trifft unserer Ansicht nach auch bei ADHS zu
- Erwachsenen mit rechtshemisphärischen Schäden geht das damit verbundene Gefühl der Vertrautheit verloren, das für die Bindung entscheidend ist.
Dies ist unserer Ansicht nach nicht ADHS-typisch, könnte aber eine häufiger auftretende Komorbidität darstellen
- Systeme, die die Aktivität der rechte Hemisphäre fördern, scheinen resilienzfördernd zu sein und vor sozial gestörtem Verhalten, Drogenmissbrauch, dem Versagen der HPA-Achse und einigen Aspekten der Pathophysiologie chronischer Krankheiten zu schützen.
Stressreaktionen und emotionalitätsbezogene Prozesse werden auch im mPFC verarbeitet. Prälimbische und infralimbische Regionen des mPFC haben Einfluss auf viszerale motorische Regionen, autonome Funktionen und emotionalen Ausdruck und stellen eine wichtige Region für die Integration von neuroendokriner und autonomer Aktivität mit den Verhaltenszuständen und kognitiven Prozessen dar,
Kindesmissbrauch und andere traumatische Stresserfahrungen, die durch unausweichliche widrige physische, emotionale oder soziale Ereignisse verursacht werden, sind signifikante Auslöser in der Pathophysiologie verschiedener psychiatrischer Störungen einschließlich ADHS.
Früher Stress kann Entwicklungsanomalien in Hirnstrukturen bedingen, die eine entscheidende Rolle bei der Vermittlung der Reaktion auf Stress spielen, z.B.:
-
Amygdala
-
Hippocampus
-
Cerebellum
-
anteriorer cingulärer Cortex
-
Corpus callosum
- und weitere
Affen, die in früher Kindheit sozial depriviert wurden, zeigten ebenso wie Kinder mit Schäden der rechten Gehirnhemisphäre ein Defizit in der Erkennung der Emotionen anderer. Dies manifestiert sich unter anderem in einem Defizit bei der Erkennung von Emotionen in Gesichtsausdrücken.
Schäden in der rechten Gehirnhälfte bewirkten einen Verlust an Fähigkeit, persönlich relevante und vertraute Elemente der Umwelt zu erfassen, zu speichern und zu verarbeiten, wodurch die Verbindung zu, Reaktion auf und Interaktion mit anderen Menschen beeinträchtigt war.
Stress verringert BDNF u.a. im Hippocampus, was Depressionen und neurodegenerative Prozesse beeinflussen kann.
1.2. Die linke Gehirnhemisphäre¶
Die linke Gehirnhemisphäre ist stärker assoziiert mit
- coping
- Flight/Fight
- verbales Verständnis
- verbaler Ausdruck
Bei Ratten zeigte sich unmittelbar nach der Geburt große Unterschiede im Dopaminumsatz zwischen den Gehirnhälften, die sich mit zunehmendem Alter verringerten.
2. Gehirnhemispären und Cortisol¶
Ein verringerter Austausch zwischen den Gehirnhemisphären scheint (auch bei PTSD) Ursache zu sein für
- verringerte Cortisolstressreaktion
-
Alexithymie.
Weiter wird ein Zusammentreffen von verringerten basalen Cortisolspiegeln (trotz normaler Cortisolreaktion auf ACTH) und Alexithymie bei manchen Betroffenen von chronischem Stress berichtet, woraus die Autoren auf ACTH-unabhängige Mechanismen schlossen, die den Cortisolspiegel verringern. Beispielsweise ist der Hippocampus ist an einer hemmenden Regulation der HPA-Achse beteiligt.
Bei Affen mit einer größeren rechtshemisphärischen Aktivierung zeigten sich eine höhere CAR (Cortisolaufwachreaktion) und höhere basale Cortisolspiegel. Affen mit einer größeren linkshemisphärischen Aktivierung zeigten dagegen eine erniedrigte CAR und erniedrigte basale Cortisolspiegel, während Affen mit einer ausgeglichenen rechts-/linkshemisphärischen Aktivierung eine mittlere CAR zeigten. Die CRH-Spiegel korrelierten dabei mit den basalen Cortisolspiegeln.
3. Gehirnhemisphären und Katecholamine¶
Möglicherweise trägt eine interhemisphärische Regulation von Amygdala und Hippocampus durch dopaminerge aufsteigende Systeme dazu bei, die rechte und linke Seite des Hippocampus in Harmonie zu halten.
Katecholamin-Asymmetrien im Gehirn könnten demnach einen konkreten Nutzen haben. Eine Störung der Asymmetrie von Katecholaminen könnte zu einem Versagen der interhemisphärischen Kommunikation und einer Isolierung des HPA-Achse führen. Die HPA-Achse scheint stärker auf die nicht-dominante Hemisphäre lateralisiert zu sein.
Dies könnte erklären, warum in alexithymen Zuständen (trotz Erregung der Kampf/Flucht-Reaktion) die Corticoide nicht erhöht bleiben.
Dies korrespondiert mit unserem Eindruck, dass alexithyme Zustände bei ADHS eher bei ADHS-HI und ADHS-C auftreten als bei ADHS-I und wir bei ersteren eine häufig abgeflachte Cortisolstressreaktion und bei letzterem eine sehr häufig erhöhte Cortisolstressreaktion vermuten.
Eine Verkleinerung des Corpus callosum korreliert mit einer verminderten Kommunikation zwischen den Hemisphären.
In einer Untersuchung mittels auditorisch evozierter Potentiale an in der Kindheit misshandelten Erwachsenen, die alle weder akute psychische Probleme noch eine akute Achse I-Diagnose hatten, wurden diese gebeten, sich zunächst aktiv an eine neutrale oder arbeitsbezogene Erinnerung und danach an eine störende Erinnerung aus der Kindheit mit Beeinträchtigung zu erinnern. Bei Nichtbetroffenen schienen beide Hemisphären gleichermaßen an der Erinnerung beteiligt. Bei Erwachsenen mit Kindheitstraumata zeigte sich während des Abrufs der neutralen Erinnerung eine deutliche Unterdrückung der evozierten Potentiale in der linken Hemisphäre, was auf eine verstärkte Verarbeitung in der linken Hemisphäre hindeutet. Während der Erinnerung an das beunruhigende Ereignis gab es eine robuste Verschiebung der Lateralität bei den evozierten Potentialen. Diese wurden in der rechten Hemisphäre unterdrückt, was auf eine verstärkte Aktivierung der rechten Hemisphäre hindeutet. Offenbar ist frühe Misshandlung mit erhöhter hemisphärischer Lateralität und verminderter hemisphärischer Integration verbunden.
In Zuständen starker emotionaler oder kognitiver Belastung werden auch bei neurologisch intakten Menschen Ereignisse in der rechten Hemisphäre durch Hemmung der Übertragung zwischen den Gehirnhemisphären funktionell von der linken getrennt. Dies kann alexithyme Zustände auslösen, wie z.B. eine verringerte emotionale Empathie bei zugleich unveränderter kognitiver Empathie.
Siehe hierzu auch ⇒ Empathie bei ADHS im Beitrag ⇒ Gesamtliste der ADHS-Symptome nach Erscheinungsformen im Kapitel ⇒ Symptome.
4. Frühe Bindungsstörung beeinträchtigt Selbstorganisation der rechten Gehirnhemisphäre¶
Im Säuglingsalter entwickeln sich die homöostatischen Strukturen zwischen den ”niedrigeren” autonomen und ”höheren” zentralen Gehirnsystemen in der rechten Gehirnhemisphäre, die dazu dienen, psychobiologische Zustände zu erzeugen, zu regulieren und zu stabilisieren.
Die rechte Hemisphäre ist deutlich stärker als die linke mit dem limbischen System und den Mechanismen des autonomen und verhaltensbezogenen Arousals verbunden. Die Reifung der rechten Gehirnhemisphäre ist erfahrungsabhängig.
Störungen der Bindung zwischen Säugling und Mutter können daher Entwicklungsstörungen der rechten Gehirnhemisphäre verursachen, die die Erregungsmodulation und die Regulation der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin beeinflussen. Dopamin und Noradrenalin sind unter anderem für
Reifungsprozesse des Gehirns verantwortlich.
ADHS wird als Entwicklungsstörung des Gehirns im Sinne einer Entwicklungsverzögerung beschrieben. Vielfache Untersuchungen bestätigen, dass frühkindliche Stresserfahrungen derartige Veränderungen des Verhaltens und der Neurotransmitter bewirken können. ⇒ Stressschäden durch frühen / langanhaltenden Stress
Wir sehen hierin keinen Widerspruch zur überwiegend genetischen Ursache von ADHS.
Erstens können die dopaminergen und noradrenergen Veränderungen, die die Gehirnentwicklung beeinträchtigen, ebenso durch Gene wie durch entsprechende Umwelteinflüsse während Entwicklungsschüben der betreffenden Gehirnregionen verursacht werden.
Zweitens implizieren die angenommenen 75 % Heritabilität zwingend 25 % andere Ursachen.
Drittens können Umwelteinflüsse ihre Wirkungen durch epigenetische Veränderungen vermitteln, die dann wiederum für einige wenige Generationen weitervererbbar sind.
Viertens sind Gen-Umwelt-Interaktionen gerade in Bezug auf die wichtigen Genkandidaten für ADHS DRD4-7R, COMT und MAO-A bekannt. Frühkindliche Bindungsprobleme können einen derartiges Umwelteinfluss darstellen.