Eine Reihe von Studien hat verschiedene visuelle Probleme bei Kindern mit ADHS festgestellt. Dazu gehören visuoperzeptive Probleme, eine Konvergenzinsuffizienz, eine beeinträchtigte Stereoakuität, häufigere refraktive Fehler, ein erhöhtes Risiko für Strabismus (Schielen) und Astigmatismus, sowie Abweichungen in den Augenbewegungen und der Akkommodation. Daneben finden sich bei ADHS neurophysiologische Veränderungen der Sehnerven, genetische Zusammenhänge mit dem DRD4-Dopaminrezeptorgen und asymmetrische Pupillendurchmesser. Visuomotorik, also die Koordination von visueller Wahrnehmung und Bewegungsapparat, korreliert mit kognitiven Fähigkeiten wie Inhibition und kognitiver Flexibilität.
ADHS ist von einem beeinträchtigten Dopaminsystem mit verringertem extrazellulärem Dopamin gekennzeichnet.
Dopamin ist auch am visuellen System beteiligt.
Bei 76 % der untersuchten Kindern mit ADHS wurde eine reduzierte Sehleistung festgestellt. Eine Metaanalyse von 35 Studien mit 3.250.905 Teilnehmern fand bei ADHS ein um 94 % erhöhtes Risiko für nicht spezifizierte Sehprobleme (OR = 1,94).
Junge Erwachsene mit ADHS zeigten mehr Probleme mit der Tiefenwahrnehmung, dem peripheren Sehen und der Farbwahrnehmung, insbesondere im blauen Spektrum, im Vergleich zu Nichtbetroffenen.
ADHS-Medikation verbesserte die Auffälligkeiten im Gesichtsfeld und die Sehschärfe bei Kindern mit ADHS. Eine andere Studie fand keine signifikanten Verbesserungen. In einer kleinen Studie verbesserte eine operative Behandlung des Schielens bei 7 von 8 Betroffenen die ADHS-Symptomatik im Elternreport.
Eine kleine Studie konnte anhand von Augenbewegungs-Tracking ADHS-Betroffene recht gut von Nichtbetroffenen unterscheiden.
Es ist daher denkbar, dass Augenprobleme die ADHS-Symptome mit verursachen oder verschlimmern können, ebenso wie dass ADHS Augenprobleme mit verursachen oder verschlimmern kann.
1. Visuoperzeptive Probleme bei ADHS (+ 1000 %)¶
Eine Studie fand bei 21 % der Kinder mit ADHS visuoperzeptive Probleme, bei Nichtbetroffenen dagegen nur bei 2 %.
2. Konvergenz und ADHS (+ 200 % bis + 400 %)¶
Eine Studie fand bei 24 % der Kinder mit ADHS eine Konvergenzinsuffizienz, bei Nichtbetroffenen dagegen nur bei 6 %.
Mehrere andere Studien fanden bei Kindern mit einer Konvergenzinsuffizienz 3 Mal so häufig ADHS als bei Nichtbetroffenen.
Eine Metaanalyse von 35 Studien mit 3.250.905 Teilnehmern fand bei ADHS ein fünffaches Risiko für einen reduzierten Nahkonvergenzpunkt (OR = 5,02).
3. Stereoakuität (stereotaktische Sicht, Tiefenwahrnehmung) bei ADHS (+ 333 %)¶
Stereoakuität ist die Fähigkeit einer Person, Objekte entlang verschiedener Entfernungen als separate Entitäten zu erkennen.
Mehrere Untersuchungen berichten eine beeinträchtigte Stereoakuität bei Kindern mit ADHS. Die Stereoakuität (Tiefenwahrnehmung) war bei 26 % der Kinder mit ADHS beeinträchtigt, gegenüber 6 % der Nichtbetroffenen.
4. Strabismus / Heterophorie (Schielen / latentes Schielen) bei ADHS (+ 93 % bis + 700 %)¶
Eine Studie fand bei Kindern mit ADHS
- mehr Strabismus (Schielen) (17 % gegenüber 2 % bei Nichtbetroffenen)
- mehr Heterophorie (latentes Schielen) (27 % gegenüber 10 % bei Nichtbetroffenen)
Eine Kohortenstudie fand ein um 15 % erhöhtes ADHS-Risiko bei Strabismus. Eine weitere Kohortenstudie fand ein verdoppeltes ADHS-Risiko bei Strabismus convergens (Innenschielen, Esotropie) und ein um 44 % erhöhtes ADHS-Risiko bei Strabismus divergens (Außenschielen, Exotropie).
Eine Metaanalyse von 35 Studien mit 3.250.905 Teilnehmern fand bei ADHS ein um 93 % erhöhtes Risiko für Strabismus (OR = 1,93) sowie ein um 79 % erhöhtes Risiko für Hyperopie und Hypermetropie (OR = 1,79).
Eine Auswertung der KiGGS-Studie (N = 13.488) fand Strabismus bei 8,2 % der ADHS-betroffenen Kinder gegenüber 4,2 % der Nichtbetroffenen (OR 2,04).
ADHS und Hyperopie, Myopie, Astigmatismus und Strabismus sagten sich gegenseitig voraus.
5. Astigmatismus bei ADHS (+ 79 % bis + 300 %)¶
Eine Studie fand bei 24 % der Kinder mit ADHS einen Astigmatismus, bei Nichtbetroffenen dagegen nur bei 6 %.
Eine Metaanalyse von 35 Studien mit 3.250.905 Teilnehmern fand bei ADHS ein um 79 % erhöhtes Risiko für Astigmatismus (OR 1,79).
Eine Auswertung der KiGGS-Studie (N = 13.488) fand Strabismus bei 10,9 % der ADHS-betroffenen Kinder gegenüber 6,9 % der Nichtbetroffenen (OR 1,84).
ADHS und Hyperopie, Myopie, Astigmatismus und Strabismus sagten sich gegenseitig voraus.
6. Augenbewegungen (Sakkaden) und ADHS¶
Verschiedene Studien fanden mittels des Gap/Overlap-Tests bei Kindern mit ADHS langsamere und variablere sakkadische Reaktionszeiten. Eine Studie konnte diesen Biomarker durch Warnsignale während des Tests eliminieren.
Eine experimentelle Studie (n = 16) berichtet von signifikanten Abweichungen von Augenbewegungen bei ADHS, die mittels Elektrookulographie (EOG) ermittelt wurden.
Eine andere Studie fand, dass bei Kindern Gesichtsfeldverschiebungen die Beziehung zwischen Hyperaktivität/Impulsivität einerseits und Problemen der Aufmerksamkeitsfokussierung und der Informationsaufnahme moderierten. Mit Abnahme der Genauigkeit der Leistung nahmen die Gesichtsfeldverschiebungen zu, auch wenn diese Korrelation nicht den Schweregrad der Symptome spiegelte.
Eine weitere Studie fand signifikante Auffälligkeiten bei ADHS-Betroffenen in der Modulation der Augenvergenzantwort (Augenvergenz = gegensinnige / disjugierte / disjunktive Augenbewegungen) während Aufmerksamkeitsaufgaben. Die diagnostische Testgenauigkeit betrug 79 %.
Eine große Studie fand eine Korrelation zwischen vorzeitigen vorausschauende Augenbewegungen und Unaufmerksamkeit, nicht aber zwischen Richtungsfehlern und ADHS-Symptomen.
Eine Metastudie fand Hinweise, dass Kinder mit ADHS:
- mehr Richtungsfehler bei einer Antisakkade-Aufgabe machten
- bei okulomotorischen Aufgaben langsamer waren und schlechtere Leistungen erbrachten
- Augenbewegungen weniger präzise ausführten
Sakkadische Augenbewegungen (Blicksprünge) werden stark durch Faktoren wie Aufmerksamkeit und Inhibition beeinflusst. Da bei ADHS Aufmerksamkeit und Inhibition beeinträchtigt sind, erscheint es plausibel, dass die sakkadischen Augenbewegungen bei ADHS Auffälligkeiten aufweisen.
Willkürliche Augenbewegungen werden durch den dlPFC gesteuert: Die willkürliche Steuerung von Augenbewegungen ist eng mit Aufmerksamkeitslenkung verbunden. Der dlPFC beherbergt zugleich das Arbeitsgedächtnis, das bei ADHS typischerweise beeinträchtigt ist.
Eine Studie fand bei Kindern mit ADHS signifikant höhere Pupillengeschwindigkeitswerte, die positiv mit den RNFL-Messungen ihrer rechten Augen korrelierten.
ADHS-Betroffene zeigten bei Blickverfolgungsaufgaben eine erhöhte Sakkadenlatenz und -intensität sowie eine kürzere Fixationszeit.
Eine schnellere visuelle Orientierung durch kürzere sakkadische Reaktionszeiten (SRT) wurde bei Baseline-Versuchen im Vergleich zu Overlap-Versuchen, bei Gesichtern im Vergleich zu Nicht-Gesichtsreizen und - deutlicher bei Kindern ohne ADHS und/oder Autismus - bei multimodalen im Vergleich zu unimodalen Reizen festgestellt. Es fand sich eine lineare negative Korrelation zwischen der präsakkadischen Pupillengröße und den SRTs bei Kindern mit ASS ohne ADHS, sowie eine quadratische Korrelation bei Kindern mit ADHS ohne ASS, bei denen die SRTs langsamer waren, wenn die intraindividuelle präsakkadische Pupillengröße am kleinsten oder größten war.
Die Abweichungen der sakkadischen Augenbewegungen bei ADHS sollen durch ein Computertraining verbesserbar sein.
7. Makuladicke bei ADHS¶
Eine kleine Untersuchung hypothetisiert, dass eine erhöhte Dicke der Makula bei Kindern mit AD(H)D das erhöhte Verhältnis der Dicke des rechten Frontallappens zu der des parietalen Cortex bei ADHS repräsentieren könnte.
8. Akkommodation bei ADHS¶
Kinder mit ADHS zeigten eine reduzierte Akkommodationsreaktion, die nicht durch den Akkommodationsreiz beeinflusst wurde. Es gab keinen deutlichen Effekt der Medikation bei ADHS auf die Akkommodationsgenauigkeit. Akkommodation bezeichnet die Fähigkeit des Auges, Objekte in unterschiedlicher Entfernung zu fokussieren / scharfzustellen.
Eine Metaanalyse von 35 Studien mit 3.250.905 Teilnehmern fand bei ADHS ein erhöhtes Risiko für erhöhte Verzögerung (Hedge’s g = 0.63 [CI: 0.30, 0.96]) und Variabilität (Hedge’s g = 0.40 [CI: 0.17, 0.64]) der akkommodativen Reaktion.
9. Neurophysiologische Veränderungen der Sehnerven bei ADHS¶
Eine Studie fand bei Kindern mit ADHS häufiger kleinere Sehnerven, kleinere neuroretinale Randbereiche oder eine verringerte Tortuosität der Netzhautarterien.
10. DRD4-7R und Sehvermögen bei ADHS¶
Das D4-Dopaminrezeptor-Gen, DRD4, ist maßgeblich an der Umwandlung von Licht in elektrische Signale in der Retina beteiligt. Die Transkription von DRD4 zeigt ein starkes circadianes Muster.
Die DRD4 7R-Variante ist eines der stärksten Einzelgenrisiken für ADHS. Siehe hierzu unter ⇒ Kandidatengene bei ADHS im Kapitel ⇒ Entstehung.
DRD4-7R korreliert mit einer geringeren Fähigkeit, den lichtsensitiven Second Messenger zyklisches Adenosinmonophosphat (cAMP) bei Beleuchtung zu reduzieren.
Daneben korreliert DRD4-7R mit einer höheren Tagesmüdigkeit, was eine Folge der Wippe zwischen Dopamin und Melatonin sein könnte.
11. Pupillendurchmesser und Noradrenalin bei ADHS¶
Tonische und phasische Noradrenalinfeuerung lässt sich anhand des Pupillendurchmessers erkennen.
Dabei entspricht die basale Größe des Pupillendurchmessers der tonischen Noradrenalinfeuerung und eine Veränderung des Pupillendurchmesser einer phasischen noradrenergen Aktivität. Eine phasische Pupillenerweiterung korrelierte mit korrekten Antworten, eine tonische Pupillenerweiterung mit Perioden von geringem Belohnungswert. Eine Zunahme des Pupillen-Grundliniendurchmessers korrelierte mit einer Abnahme des Aufgabennutzens und einer Loslösung von der Aufgabe (Exploration), eine Verringerung des Grundliniendurchmessers bei Zunahme der durch die Aufgabe hervorgerufenen Dilatation korrelierte mit dem Engagement bei der Aufgabe (Exploitation).
Eine Pupillenerweiterung ist ein physiologischer Index für erhöhtes Arousal und noradrenerge Aktivität des Locus coeruleus.
Der Pupillendurchmesser im Ruhezustand spiegelt auch die Konnektivität zwischen frontoparietalen, striatalen und thalamischen Gehirnregionen wider.
Messungen der Pupillendurchmesser zeigen Abweichungen im noradrenergen System bei ADHS.
Mehr hierzu unter Tonisches und Phasisches Noradrenalin bei ADHS im Beitrag Noradrenalin.
12. Refraktive Fehler und ADHS¶
Eine Studie stellte bei 83 % der untersuchten Kinder mit ADHS refraktive Fehler fest. Eine Metaanalyse von 35 Studien mit 3.250.905 Teilnehmern fand bei ADHS keine Häufung von Refraktionsfehlern (Hedge’s g = 0,08 [CI: -0,26, 0,42]) .
Eine Dysfunktion des retinalen Dopamins könnte das neuroentwicklungsbedingte Wachstums des Auges beeinflussen, was zu refraktiven Fehlern führt. Dies könnte die Häufigkeit refraktiver Fehler bei ADHS mit erklären.
Es verdichten sich die Hinweise, dass die weltweit zunehmende Kurzsichtigkeit dopaminerg vermittelt wird und mit einem Mangel an Tageslicht zusammenhängt.
Zwischen 1981 und 2002 haben sich die Outdooraktivitäten von 1 Stunde 40 Minuten je Woche auf 50 Minuten je Woche halbiert.
12.1. Weitsichtigkeit (Hyperopie) (+ 67 %)¶
Eine Auswertung der KiGGS-Studie (N = 13.488) fand Weitsichtigkeit bei 13,0 % der ADHS-betroffenen Kinder gegenüber 8,2 % der Nichtbetroffenen (OR 1,67).
ADHS und Hyperopie, Myopie, Astigmatismus und Strabismus sagten sich gegenseitig voraus.
12.2. Kurzsichtigkeit (Myopie) (+ 29 %)¶
Eine Auswertung der KiGGS-Studie (N = 13.488) fand Kurzsichtigkeit bei 16,2 % der ADHS-betroffenen Kinder gegenüber 13,1 % der Nichtbetroffenen (OR 1,29).
ADHS und Hyperopie, Myopie, Astigmatismus und Strabismus sagten sich gegenseitig voraus.
13. Retinale Nervenfaserschichtdicke unverändert¶
Eine Metaanalyse von 35 Studien mit 3.250.905 Teilnehmern fand bei ADHS keine Veränderung der Dicke der retinalen Nervenfaserschicht (Hedge’s g = -0,19 [CI: -0,41, 0,02]) .
14. Visuomotorik korreliert mit Inhibition und kognitiver Flexibilität¶
Visuomotorik ist die Koordination von visueller Wahrnehmung und Bewegungsapparat und umfasst unter anderem die Auge-Hand-Koordination.
Eine Studie berichtet:
Visuomotorische Flüssigkeit korrelierte signifikant mit kognitiver Inhibition. Die Fähigkeit, visuell geführte, kontinuierliche Bewegungen fließend auszuführen, korreliert mit der Fähigkeit, die Auswirkungen von ablenkenden Informationen zu hemmen.
Die visuomotorische Flexibilität korrelierte signifikant mit kognitiver Flexibilität. Die Fähigkeit, visuelle Informationen spontan zu nutzen, um motorische Reaktionen flexibel zu verändern, korreliert mit der Fähigkeit, kognitiv von einer Geisteshaltung in eine andere zu wechseln.
15. Netzhautablösung, Netzhautbrüche¶
Eine Exposition gegenüber Netzhautablösungen und -brüchen war mit einem um 19 % erhöhten Risiko für eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung verbunden.