Organisationsprobleme sind ein wesentlicher Teil der Exekutivfunktionen.
Eine Beschreibung der Exekutivfunktionen findet sich unter ⇒ Organisationsschwierigkeiten / Exekutivprobleme im Beitrag ⇒ Gesamtliste der ADHS-Symptome nach Erscheinungsformen im Kapitel ⇒ Symptome.
Exekutivfunktionen werden vornehmlich durch das Arbeitsgedächtnis gesteuert.
ADHS ist durch 3 Pathways (nach Sonuga-Barke) gekennzeichnet, die neurophysiologisch Symptome verursachen:
- Dopaminmangel (u.a.) im dlPFC (Arbeitsgedächtnis)
- Exekutivfunktionen
- Desorganisiertheit
- Vergesslichkeit
- Dopaminmangel (u.a.) im Striatum (Verstärkungszentrum)
- Motivationsprobleme
-
Impulsivität
- Hyperaktivität
- Veränderungen im Kleinhirn
1. Das Arbeitsgedächtnis (Working Memory)¶
Das Arbeitsgedächtnis unterstützt die Fähigkeit, Informationen vorübergehend zu speichern und zu manipulieren, um zielgerichtetes Verhalten zu steuern.
Goldman-Rakic definierte das Arbeitsgedächtnis als die Fähigkeit, sich Ereignisse in Abwesenheit direkter Stimulation ins Gedächtnis zu rufen. Dazu wird eine wechselseitige Feed-Forward-Hemmung zwischen Gruppen von Pyramidenneuronen genutzt.
Das Arbeitsgedächtnis besteht aus drei Gedächtniseinheiten, die von einer zentralen Instanz koordiniert werden:
- verarbeitende Prozessoreinheit (“zentrale Exekutive”)
-
dlPFC
- verarbeitet Informationen, die in den beiden Gedächtnisspeichern vorgehalten werden
- visuell-räumliches Gedächtnis
- rechter hinterer Parietallappen
- akustisch-sprachliches (“phonologisches”) Gedächtnis
- unterer linken Parietallappen
- Kurzzeitgedächtnis
- episodischer Puffer für visuell-räumliche und akustisch-sprachliche Informationen zur Verarbeitung durch die zentrale Exekutive. Speicherkapazität im Schnitt 7 (+/-2) Einheiten (Millersche Zahl)
Übertragen auf einen PC könnte man die zentrale Exekutive als den Hauptprozessor, das Kurzzeitgedächtnis als den Arbeitsspeicher (RAM) und die Gedächtnisspeicher als verschiedene Segmente der Festplatte beschreiben.
Das Arbeitsgedächtnis im dlPFC wird vornehmlich dopaminerg und noradrenerg gesteuert.
Dopamin wie auch Noradrenalin beeinflussen das Arbeitsgedächtnis in einer Inverted-U-Form. Zu wenig Dopamin oder Noradrenalin beeinträchtigen des Arbeitsgedächtnis ebenso wie zu viel Dopamin oder Noradrenalin.
1.1. Arbeitsgedächtnis und Dopamin¶
Es scheint überwiegend phasisches und weniger tonisches Dopamin die Vorgänge des Arbeitsgedächtnisses zu steuern. Beispielsweise reagieren DA-Neuronen phasisch auf Reize, die gemerkt werden sollen und zeigen keine tonische Aktivität während des Retentionsintervalls, also der Zeit, während dessen die Informationen aktiv gehalten wird.
D1-Agonisten verbessern, D1-Antagonisten beeinträchtigen die Funktion des Arbeitsgedächtnisses. Eine übermäßige D1-Stimulation, wie bei akutem Stress, führt ebenso zu Arbeitsgedächtnisdefiziten wie eine unzureichende D1-Stimulation.
D2-Rezeptor-Agonisten verbessern, D2-Antagonisten beeinträchtigen das räumliche (nicht das nicht-räumliche) Arbeitsgedächtnis und dadurch die exekutiven Funktionen bei gesunden Erwachsenen.
1.2. Arbeitsgedächtnis und Noradrenalin¶
Das Arbeitsgedächtnis wird bei Menschen und z.B. Ratten auch noradrenerg gesteuert.
Die Aktivierung postsynaptischer α1-Adrenozeptoren durch Stress beeinträchtigt das Arbeitsgedächtnis via Aktivierung des PKC-Pfads (Phosphatidylinositol-Protein-Kinase C). Guanfacin und Clonidin verbesserte bei alternden oder jüngeren PFC-läsionierten Affen das räumliche Arbeitsgedächtnis.
Die Menge der Noradrenalinfreisetzung im PFC bestimmt, welcher Adrenorezeptor-Typ adressiert wird. Moderate Noradrenalin-Spiegel aktivieren hochaffine a-2A-Rezeptoren (Gi gekoppelt, cAMP-hemmend), während höhere Noradrenalin-Spiegel, wie sie bei Stress freigesetzt werden, niedrigaffine a-1-Rezeptoren (Phosphotidyl-Inositol-gekoppelt) und niedrigaffine b-1-Rezeptoren aktivieren, was die cAMP-Signalisierung erhöht. Moderate Spiegel von Noradrenalin verbessern das Arbeitsgedächtnis im PFC über den hochaffinen a-2A-Adrenorezeptor, während eine Stimulation von D1- Rezeptor, a-1-Adrenorezeptor und b-1-Adrenorezeptor (niedrigaffin für Noradrenalin) das Arbeitsgedächtnis beeinträchtigt.
1.3. Arbeitsgedächtnis und CRH¶
CRH allgemein sowie im PFC im Besonderen beeinträchtigt dosisabhängig das visuell-räumliche Arbeitsgedächtnis, das insbesondere bei ADHS beeinträchtigt ist. Unspezifische CRH-Rezeptor-Antagonisten wie selektive CRH-1-Rezeptor-Antagonisten behoben die Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses und wurden von den Autoren deshalb als mögliche Ansatzpunkte einer Behandlung bei ADHS in Betracht gezogen.
2. Arbeitsgedächtnisprobleme bei ADHS¶
ADHS korreliert mit Arbeitsgedächtnisproblemen, anders als Tic-Störungen.
Die verschiedenen Komponenten des Arbeitsgedächtnisses bei ADHS scheinen unterschiedlich häufig (und individuell sehr verschieden) beeinträchtigt zu sein. Rund 70 % der Betroffenen zeigten eine Beeinträchtigung in einem der 3 Bereiche:
- Neuordnung des Arbeitsspeichers (sehr häufig)
- Beibehalten und Neuanordnen von Informationen
- Aktualisierung des Arbeitsgedächtnisses (häufig)
- aktive Überwachung eingehender Informationen und das Ersetzen veralteter Informationen durch relevante Informationen
- 8 % der Betroffenen zeigten in diesem Bereich eine besondere Stärke
- Duale Verarbeitung (selten)
- Beihalten von Informationen während der Ausführung einer Nebenaufgabe
- 20 % der Betroffenen zeigten in diesem Bereich eine besondere Stärke
Im dlPFC wird die Daueraufmerksamkeit zur Lösung von Problemen abgebildet. Die durch eine gestörte Daueraufmerksamkeit verursachten ADHS-Symptome korrelieren daher mit einer Störung des dlPFC. Selektive Aufmerksamkeit (Ablenkbarkeit) wird dagegen im dorsalen Nucleus accumbens verortet.
Arbeitsgedächtnisprobleme verringern sich bei ADHS nicht im Erwachsenenalter. Teilweise wurde eine Verschlechterung der Ablenkbarkeit festgestellt.
Eine andere Studie fand überraschend, dass Spracherwerb und arithmetische mathematische Fähigkeiten, für die das Arbeitsgedächtnis benötigt wird, bei Kindern mit ADHS nicht wesentlich verschlechtert waren. Die Performance brach jedoch deutlich ein, wenn die Betroffenen glaubten, weniger begabt zu sein.
Eine Untersuchung fand bei Kindern mit ADHS neben Exekutivproblemen auch (und abweichend zu anderen Untersuchungen) Probleme mit der Theory of Mind (ToM). Diese korrelierten jedoch nicht mit den Exekutivproblemen, sodass eine Beteiligung des Arbeitsgedächtnisses wenig wahrscheinlich erschien. Eine andere Studie fand bei Erwachsenen mit ADHS herabgesetzte Fähigkeiten der Theory of Mind, die mit Exekutivproblemen korrelierten.
Bei Kindern mit ADHS fand sich eine Korrelation zwischen der Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses und Auffälligkeiten bei der Augenbewegung beim Lesen. Das visuelle Scannen von Wörtern beim Lesen war diskontinuierlich, unkoordiniert und chaotisch. ADHS-Gruppen zeigten höheren Entropieindex unter den vier Kategorien von Sakkaden als Nichtbetroffene.
Bei ADHS dauert es 250 ms, bis ein Fehler im Satzbau erfasst wird. Bei Nichtbetroffenen dauert es lediglich 100 ms.
Organisationsschwierigkeiten (Desorganisiertheit) sollen häufig mit Zeitwahrnehmungsproblemen zusammenhängen. Dies deckt sich indes nicht mit den hier beschriebenen neurophysiologischen Korrelaten von Organisationsproblemen / Exekutivproblemen (Defizite im Arbeitsgedächtnis, das im dlPFC sitzt), während die neurophysiologischen Korrelate von Zeit(wahrnehmungs-)problemen vornehmlich im Cerebellum verortet werden.
Eine Studie fand Hinweise, dass die mit der N-Back-Aufgabe messbaren kognitiven Defizite von Patienten mit ADHS nicht auf einem Defizit des Arbeitsgedächtnisses, sondern auf einer Störung des kognitiven Zustands (Gedächtnisbelastung, Aufgabendauer und neue Reize) beruhen. ADHS-Betroffene und Kontrollen zeigten in Bezug auf Reaktionszeit und Genauigkeit keine signifikanten Unterschiede:
- Räumlich gesehen wiesen erwachsene ADHS-Patienten im linken orbitofrontalen Bereich und im linken frontopolaren Bereich (Kanäle 4 und 11) signifikant höhere Aktivierungswerte von oxyHb bei der 2-back-Aufgabe und niedrigere Aktivierungswerte von deoxyHb bei der 3-back-Aufgabe auf als gesunde Kontrollpersonen (korrigierter p < 0,05).
- Zeitlich gesehen erreichten Erwachsene mit ADHS ihre Spitzenwerte in den ROIs früher als gesunde Kontrollpersonen.
3. Messung von Arbeitsgedächtnisproblemen¶
Die mit dem Arbeitsgedächtnis verbundenen Items der Problemlösungsfähigkeiten und der Daueraufmerksamkeit können mit Tests gemessen werden.
3.1. Messung von Arbeitsgedächtnisproblemen mit dem N-back-Test¶
Das Arbeitsgedächtnis und die Daueraufmerksamkeit können mit dem N-back-Test geprüft werden.
Mehr hierzu unter ⇒ N-back-Test im Unterabschnitt ⇒ Aufmerksamkeits- und Reaktionstests im Abschnitt ⇒ Tests im Beitrag ⇒ ADHS – Diagnosemethoden im Kapitel ⇒ Diagnostik.
4. Weitere Exekutivfunktionen¶
Inhibition (Kontrolle der Reaktionshemmung)
-
PFC rechts inferior
- Basalganglien
Fehlerdetektion
-
PFC medial
- ACC rostral und der temporoparietale Übergang
Kontrolle der Interferenz (eine Komponente der Reaktionshemmung)
- ACC
-
PFC lateral
-
Cortex parietal
Planung und das Lösen von Problemen
-
dlPFC
- ACC
-
OFC
- motorische/premotorische Areale
korrekte Ausführung von Arbeitsgedächtnisaufgaben
-
dlPFC
- vlPFC
-
rostraler PFC
-
parietaler Cortex (bilateral und medial-posterior)
Wortgeläufigkeit:
-
phonemische Wortgeläufigkeit
Anzahl der Worte mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben, die ein Probandbilden kann:
-
frontale Regionen
- linke motorischen/premotorische Regionen
- linken oder bilateralen operculäre Regionen
- linken laterale orbitofrontale Regionen
- rechte dorsolaterale Regionen
-
semantische / kategoriale Wortgeläufigkeit
Anzahl der Worte, die ein Proband aus einer bestimmten semantischen Kategorie (z. B. Tiere) bilden kann, unabhängig vom Anfangsbuchstaben
kognitive Flexibilität
-
Cortex inferior parietal
-
superiorer Colliculus
- Thalamus posterior lateral
-
mediale frontale Regionen
- prä-supplementäres motorisches Areal
5. Cerebellumschäden als Ursache von Exekutivproblemen¶
Kinder mit tumurbedingten Schäden des Cerebellums zeigten signifikant häufiger Exekutivprobleme und sozial-emotionale Probleme.
6. Unzureichende Nutzung neuronaler Ressourcen¶
Ein Studie untersuchte die Zugriffe auf Gehirnkapazitäten während einer ressourcenintensiveren Aufgabe bei Patienten mit ADHS. Es zeigte sich, dass eine exekutive Dysfunktion während einer ressourcenintensiveren Aufgabe auf eine unzureichende Inanspruchnahme (Allokation) neuronaler Ressourcen zurückzuführen sein könnte. Der Unterschied zeigte sich in einer verringerten Pupillenerweiterung.