9. Motivationsprobleme bei ADHS
Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
Motivation ist eine Handlungsbereitschaft als aktivierendes Moment zur Erreichung eines bestimmten Ziels. Die Umsetzung der Motivation (Handlungsbereitschaft) zur Handlung erfolgt durch den Antrieb.1 Eine weitere Definition von Motivation ist der Prozess der Initiierung, Steuerung und Aufrechterhaltung physischer und psychischer Aktivitäten, einschließlich der Mechanismen zur Bevorzugung einer Aktivität und zur Steuerung der Stärke und Beharrlichkeit von Reaktionen.2
Motivationsprobleme der intrinsischen wie extrinsischen Motivation sind ein typisches Symptom von ADHS.3
Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS sind primär ein Problem der mangelnde Selbstmotivierbarkeit. Während intrinsisch interessante Themen die Aufmerksamkeit wecken können, schaffen intrinsisch nicht interessante Themen Aufmerksamkeitsprobleme. Dies trifft ebenso auf motorische Unruhe zu. Ein Zeitraffervideo, das einen Betroffenen bei der Beobachtung eines intrinsisch interessierenden und eines intrinsisch nicht interessierenden Videos zeigt, verdeutlicht, dass Hyperaktivitätsprobleme bei ADHS motivational verursacht sein können.
Prokrastination, Abwertung späterer Belohnungen und Verzögerungsaversion sind eng mit ADHS und Stress verbunden.
Prokrastination (Aufschieberitis) ist ein häufiges ADHS-Symptom, bei dem man Aufgaben und Handlungen unnötig lange aufschiebt.
Bei ADHS-Betroffenen ist nicht die grundsätzliche Fähigkeit zur Priorisierung beeinträchtigt, sondern es ist ein unpassendes Priorisierungsprogramm aktiviert, das dazu führt, dass unwichtige Dinge nicht von wichtigen unterschieden werden können. Prokrastination kann auch als Stresssymptom betrachtet werden. Unter Stress konzentrieren sich Betroffene auf die Dinge, die im Hier und Jetzt wichtig sind, und blenden alles andere aus. Dies kann dazu führen, dass Dinge, die nicht sofort erledigt werden müssen, als weniger wichtig und lohnenswert empfunden werden.
Die Abwertung späterer Belohnungen, auch als Delay Discounting bezeichnet, ist ein weiteres Symptom von ADHS. Betroffene bewerten spätere Belohnungen geringer als Personen ohne ADHS. Sofortige Belohnungen werden genauso geschätzt wie von Nichtbetroffenen. Dies hängt möglicherweise mit einer Dysfunktion des Belohnungssystems im Gehirn zusammen.
Verzögerungsaversion zeigt sich darin, dass ADHS-Betroffene Warten als unangenehm empfinden und Schwierigkeiten haben, intrinsisch als interessant oder wichtig erachtete Dinge aufzuschieben oder sich Geduld zu üben. Verzögerungsaversion korreliert mit anderen Symptomen von ADHS wie innere Unruhe und Frustrationsintoleranz. Verzögerungsaversion ist nicht allein auf eine Inhibitionsproblematik zurückzuführen, sondern hängt auch mit emotionaler Dysregulation zusammen. Stressreduzierende Maßnahmen können die Verzögerungsaversion verringern.
ADHS kann auch als Dysfunktion des Belohnungswahrnehmungssystems (“Reward defency syndrome”) beschrieben werden.4 In einem Virtual Reality Training konnten materielle ebenso wie mentale Belohnungen Aufmerksamkeitsdefizite bei Kindern mit ADHS verbessern.5
- 9.1. Prokrastination (Aufschieberitis)
- 9.2. Abwertung späterer Belohnung (Delay Discounting / Reward Discounting)
- 9.3. Verzögerungsaversion (Delay Aversion)
9.1. Prokrastination (Aufschieberitis)
9.1.1. Prokrastination als ADHS-Symptom
Wir betrachten Prokrastination als eine Folge der Abwertung von entfernteren Belohnungen (Delay Discounting) einerseits und einer veränderten Wahrnehmung, was intrinsisch interessant empfunden wird, andererseits. Prokrastination könnte den Gegenpol von Verzögerungsaversion im Sinne einer Regulationsstörung darstellen.
9.1.2. Prokrastination: Dinge erst in letzter Minute erledigen können
Dinge erst in letzter Minute erledigen zu können, ist eine andere Beschreibung von Prokrastination. Die Erklärung ergibt sich aus dem Stressnutzen von Prokrastination, dass bei existenzbedrohendem Stress Dinge, die nicht unmittelbar sofort erforderlich sind, ausgeblendet werden, um die Konzentration auf die Dinge zu lenken, die jetzt akut wichtig sind. Wer in akuter Not unwichtige Dinge von wichtigen unterscheiden kann, hat einen Überlebensvorteil. Es war nun einmal nicht so hilfreich beim Überleben, während der Flucht vor dem Säbelzahntiger die schönen Blumen am Wegesrand zu bewundern oder die reifen Früchte vom Busch dahinter als Vorrat für den Winter mitnehmen zu wollen.
Das Problem bei ADHS ist nicht eine grundsätzlich falsche Priorisierung (im Sinne einer generellen “technischen” Unfähigkeit dazu), sondern ein unpassendes Priorisierungsprogramm (Stressreaktionen ohne adäquate Stressoren). Bei ADHS-Betroffenen ist nicht die neurophysiologische Fähigkeit beeinträchtigt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden, sondern es ist ein Notprogramm aktiviert, ohne dass hierfür ein angemessener Anlass bestünde. Dieses Notprogramm ist (für alle höheren Lebewesen) bei akutem überlebensbedrohlichem Stress sinnvoll. In diesem Fall wird der Fokus auf die Dinge verschoben, die im unmittelbaren Hier und Jetzt wichtig sind – alles andere wird ausgeblendet bzw. verschoben.
Die eigentliche Fähigkeit zu Konzentration und Aufmerksamkeit ist bei ADHS nicht beeinträchtigt. Es ist die Lenkbarkeit der Aufmerksamkeit, die bei Betroffenen anders funktioniert als bei Nichtbetroffenen.
9.1.3. Prokrastination: Nicht anfangen können
ADHS-Betroffene haben häufig ein Problem, mit Dingen anzufangen. Dies kann bis zu einer völligen Blockade reichen, mit Dingen zu beginnen.
Ursache dürfte sein, dass bei ADHS das Motivationssystem des Gehirns, das Striatum, einen verringerten (extrazellulären) Dopamin und Noradrenalinspiegel aufweist.
Während bei Nichtbetroffenen die Motivation, Dinge zu beginnen, über den Dopaminspiegel im Belohnungszentrum des Gehirns alleine durch Umwelteinflüsse gesteuert wird, ist bei ADHS dieses Steuerungselement, der extrazelluläre Dopaminspiegel, aufgrund genetischer Disposition in einer Schieflage. In der Folge fühlen manche ADHS-Betroffene eine überhöhte Abneigung, mit etwas anzufangen, die nicht die Umweltbedingungen repräsentiert. (Andere Betroffene können eine überhöhte Affinität haben, Dinge anzufangen, und dafür eher das Problem, sie nicht fertig machen zu können. Dies ist an anderer Stelle zu erörtern.)
Emotionen sind eine starke Steuerungsquelle für menschliches Verhalten. Auch das Gefühl “ich will das nicht” vermittelt eine Bedeutung. Ähnliche Begriffe sind “Automatik”, “Bahnung des Verhaltens” oder “Autobahnen im Kopf”.
Solche Bewertungen sind lebensnotwendig. Menschen sind nicht in der Lage, ständig die gesamte Umwelt kognitiv zu analysieren und ihr gesamtes Verhalten bewusst zu steuern. Hierfür ist der PFC, der eher wie ein Mikroskop einzelne Aspekte der Außenwelt genauer anschauen kann, nicht ausgelegt. Mit einem Mikroskop lassen sich hervorragend Erkenntnisse über einzelne kleine Aspekte der Umwelt erkennen. Für die Steuerung aller Entscheidungen ist es dagegen ungeeignet, weil die Menge der dabei entstehenden Informationen um Dimensionen zu groß wäre.
Die Antriebsschwäche, Dinge anzufangen, ist eine solche subjektiv wahrgenommene Bedeutung / Automatik. Derartige Automatiken können trügerisch sein (so wie man auch nie alles glauben sollte, was man denkt, wenn man nachts wachliegt…). Bei ADHS ist diese Bewertung fehlerhaft.
Das zu wissen, kann Betroffenen helfen. Es ändert nichts daran, dass sich die Abneigung auch weiter genauso unerfreulich anfühlt - der Moment selbst wird dadurch nicht leichter. Zu wissen jedoch, dass sich eben nur der erste Schritt so anfühlt und es danach einfacher sein wird, als es sich vorher anfühlt, kann manchen eine Hilfe dabei sein, dem Gefühl, das diese dysfunktionales Antriebsschwäche verursacht, nicht völlig ausgeliefert zu sein.
Der Satz: Wenn du Schwierigkeiten hast, etwas anzufangen, fang es einfach an, klingt zunächst nach Verdummungsrhetorik, wie sie ADHS-Betroffen zu allzu häufig ertragen müssen.
Hier ist ausnahmsweise jedoch ein bisschen etwas dran, weil das Anfangen selbst bereits in eine Tätigkeit führt, die Dopamin ausschüttet, was dann die Fortsetzung der Tätigkeit deutlich leichter macht, als es zuvor wirkte.
So berichten Betroffene beispielsweise von ihren ADHS-betroffenen Kindern, die sich nicht aufraffen können, die Zähne zu putzen, dass ein gemeinsames Beginnen die Hemmung überwindet und das Fortsetzen der Tätigkeit dann leichter fällt, als es zuvor subjektiv erschien.
9.1.4. Prokrastination als Stresssymptom
Viele Quellen, insbesondere aus der Managementliteratur, berichten davon, dass Prokrastination über den dadurch entstehenden Zeitdruck Stress verursacht.
Medizinische Untersuchungen belegen jedoch, dass Prokrastination auch eine Folge von Stress sein kann,6 wenn auch die Korrelation etwas schwächer ist als mit Angst, Depression oder Fatigue.78
Der evolutionsbiologische Stressnutzen von Prokrastination ist unserer Ansicht nach wie bei der Genussunfähigkeit eine Konzentration auf den wichtigsten Stressor. Unwichtigere Dinge werden in ihrer subjektiven Bedeutung abgewertet, die unmittelbar wichtigen Dinge werden aufgewertet, wie es in überlebensrelevanten Situationen richtig wäre. Die Bewertung, was für das eigene Überleben wichtig und was unwichtig ist, muss zwangsläufig stets durch das betroffene Lebewesen selbst vorgenommen werden. In überlebensbedrohlichen Situationen ist es hilfreich, die eigenen Bedürfnisse (das Überleben) stärker zu bewerten als die Bedürfnisse und Anforderungen anderer (extrinsische Motive). Daher folgt die Aufmerksamkeit den persönlichen Interessen, während weniger interessante Anforderungen abgewertet werden. Mehr hierzu unter ⇒ Stressnutzen – der überlebensfördernde Zweck von Stress.
In der Folge werden alle Dinge, die nicht jetzt sofort ganz zwingend erledigt werden müssen, von Stressbelasteten wie von ADHS-Betroffenen als weniger wichtig und lohnenswert empfunden werden als von Nichtbetroffenen.
Subjektiv unangenehme Dinge werden dadurch verhältnismäßig stärker aufgeschoben und oft erst in letzter Minute erledigt – erst dann rutschen sie in den stressbedingt auf das Hier und Jetzt verschobenen Fokus. Bis dahin sind sie zu weit weg, um interessant genug zu sein, um in den Fokus zu geraten.
Starker Stress sagt: jetzt erst mal überleben – genießen und erholen kannst Du Dich später.
Bei einer gesunden (kurzzeitigen) Stressreaktion ist dies richtig und hilfreich.
9.2. Abwertung späterer Belohnung (Delay Discounting / Reward Discounting)
Abwertung späterer Belohnung ist ein Impulsivitätssymptom. Mehr hierzu unter Abwertung späterer Belohnung (Delay Discounting / Reward Discounting) im Beitrag Impulsivität / Inhibitionsprobleme bei ADHS.
9.3. Verzögerungsaversion (Delay Aversion)
Verzögerungsaversion ist ein Impulsivitätssymptom. Mehr hierzu unter Verzögerungsaversion (Delay Aversion) im Beitrag Impulsivität / Inhibitionsprobleme bei ADHS.
Mayer: Glossar Psychiatrie / Psychosomatik / Psychotherapie / Neurologie / Neuropsychologie: Motivation ↥
Zimbardo (2004): Psychologie, zitiert nach Mayer: Glossar Psychiatrie / Psychosomatik / Psychotherapie / Neurologie / Neuropsychologie: Motivation ↥
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