Liebe Leserinnen und Leser von ADxS.org, bitte verzeihen Sie die Störung.
ADxS.org benötigt in 2023 rund 33.500 €. In 2022 erhielten wir Spenden Dritter von rund 13.000 €. Leider spenden 99,8 % unserer Leser nicht. Wenn alle, die diese Bitte lesen, einen kleinen Beitrag leisten, wäre unsere Spendenkampagne für das Jahr 2023 nach einigen Tagen vorbei. Dieser Spendenaufruf wird 18.000 Mal in der Woche angezeigt, jedoch nur 40 Menschen spenden. Wenn Sie ADxS.org nützlich finden, nehmen Sie sich bitte eine Minute Zeit und unterstützen Sie ADxS.org mit Ihrer Spende. Vielen Dank!
Seit dem 01.06.2021 wird ADxS.org durch den gemeinnützigen ADxS e.V. getragen. Spenden an den ADxS e.V. sind steuerlich absetzbar (bis 300 € genügt der Überweisungsträger als Spendenquittung).
Motivation ist eine Handlungsbereitschaft als aktivierendes Moment zur Erreichung eines bestimmten Ziels. Die Umsetzung der Motivation (Handlungsbereitschaft) zur Handlung erfolgt durch den Antrieb.1 Eine weitere Definition von Motivation ist der Prozess der Initiierung, Steuerung und Aufrechterhaltung physischer und psychischer Aktivitäten, einschließlich der Mechanismen zur Bevorzugung einer Aktivität und zur Steuerung der Stärke und Beharrlichkeit von Reaktionen.2
Motivationsprobleme der intrinsischen wie extrinsischen Motivation sind ein typisches Symptom von ADHS.3
Prokrastination, Abwertung späterer Belohnungen und Verzögerungsaversion sind eng mit ADHS und Stress verbunden.
Prokrastination (Aufschieberitis) ist ein häufiges ADHS-Symptom, bei dem man Aufgaben und Handlungen unnötig lange aufschiebt.
Bei ADHS-Betroffenen ist nicht die grundsätzliche Fähigkeit zur Priorisierung beeinträchtigt, sondern es ist ein unpassendes Priorisierungsprogramm aktiviert, das dazu führt, dass unwichtige Dinge nicht von wichtigen unterschieden werden können. Prokrastination kann auch als Stresssymptom betrachtet werden. Unter Stress konzentrieren sich Betroffene auf die Dinge, die im Hier und Jetzt wichtig sind, und blenden alles andere aus. Dies kann dazu führen, dass Dinge, die nicht sofort erledigt werden müssen, als weniger wichtig und lohnenswert empfunden werden.
Die Abwertung späterer Belohnungen, auch als Delay Discounting bezeichnet, ist ein weiteres Symptom von ADHS. Betroffene bewerten spätere Belohnungen geringer als Personen ohne ADHS. Sofortige Belohnungen werden genauso geschätzt wie von Nichtbetroffenen. Dies hängt möglicherweise mit einer Dysfunktion des Belohnungssystems im Gehirn zusammen.
Verzögerungsaversion zeigt sich darin, dass ADHS-Betroffene Warten als unangenehm empfinden und Schwierigkeiten haben, intrinsisch als interessant oder wichtig erachtete Dinge aufzuschieben oder sich Geduld zu üben. Verzögerungsaversion korreliert mit anderen Symptomen von ADHS wie innere Unruhe und Frustrationsintoleranz. Verzögerungsaversion ist nicht allein auf eine Inhibitionsproblematik zurückzuführen, sondern hängt auch mit emotionaler Dysregulation zusammen. Stressreduzierende Maßnahmen können die Verzögerungsaversion verringern.
Wir betrachten Prokrastination als eine Folge der Abwertung von entfernteren Belohnungen (Delay Discounting) einerseits und einer veränderten Wahrnehmung, was intrinsisch interessant empfunden wird, andererseits. Prokrastination könnte den Gegenpol von Verzögerungsaversion im Sinne einer Regulationsstörung darstellen.
9.1.2. Prokrastination: Dinge erst in letzter Minute erledigen können¶
Dinge erst in letzter Minute erledigen zu können, ist eine andere Beschreibung von Prokrastination. Die Erklärung ergibt sich aus dem Stressnutzen von Prokrastination, dass bei existenzbedrohendem Stress Dinge, die nicht unmittelbar sofort erforderlich sind, ausgeblendet werden, um die Konzentration auf die Dinge zu lenken, die jetzt akut wichtig sind. Wer in akuter Not unwichtige Dinge von wichtigen unterscheiden kann, hat einen Überlebensvorteil. Es war nun einmal nicht so hilfreich beim Überleben, während der Flucht vor dem Säbelzahntiger die schönen Blumen am Wegesrand zu bewundern oder die reifen Früchte vom Busch dahinter als Vorrat für den Winter mitnehmen zu wollen.
Das Problem bei ADHS ist nicht eine grundsätzlich falsche Priorisierung (im Sinne einer generellen “technischen” Unfähigkeit dazu), sondern ein unpassendes Priorisierungsprogramm (Stressreaktionen ohne adäquate Stressoren). Bei ADHS-Betroffenen ist nicht die neurophysiologische Fähigkeit beeinträchtigt, wichtiges von unwichtigem zu unterscheiden, sondern es ist ein Notprogramm aktiviert, ohne dass hierfür ein angemessener Anlass bestünde. Dieses Notprogramm ist (für alle höheren Lebewesen) bei akutem überlebensbedrohlichem Stress sinnvoll. In diesem Fall wird der Fokus auf die Dinge verschoben, die im unmittelbaren Hier und jetzt wichtig sind – alles andere wird ausgeblendet bzw. verschoben.
Die eigentliche Fähigkeit zu Konzentration und Aufmerksamkeit ist bei ADHS nicht beeinträchtigt. Es ist die Lenkbarkeit der Aufmerksamkeit, die bei Betroffenen anders funktioniert als bei Nichtbetroffenen.
Viele Quellen, insbesondere aus der Managementliteratur, berichten davon, dass Prokrastination über den dadurch entstehenden Zeitdruck Stress verursacht.
Medizinische Untersuchungen belegen jedoch, dass Prokrastination auch eine Folge von Stress sein kann,4 wenn auch die Korrelation etwas schwächer ist als die von Angst, Depression oder Fatigue.56
Der evolutionsbiologische Stressnutzen von Prokrastination ist unserer Ansicht nach wie bei der Genussunfähigkeit eine Konzentration auf den wichtigsten Stressor. Unwichtigere Dinge werden in ihrer Bedeutung abgewertet, die unmittelbar wichtigen Dinge werden aufgewertet, wie es in überlebensrelevanten Situationen richtig wäre. Die Bewertung, was für das eigene Überleben wichtig und was unwichtig ist, muss zwangsläufig stets durch das betroffene Lebewesen selbst vorgenommen werden. In überlebensbedrohlichen Situationen ist es hilfreich, die eigenen Bedürfnisse stärker zu bewerten als die Bedürfnisse und Anforderungen anderer (extrinsische Motive). Daher folgt die Aufmerksamkeit den persönlichen Interessen, während weniger interessante Anforderungen abgewertet werden. Mehr hierzu unter ⇒ Stressnutzen – der überlebensfördernde Zweck von Stress.
In der Folge werden alle Dinge, die nicht jetzt sofort ganz zwingend erledigt werden müssen, von Stressbelasteten wie von ADHS-Betroffenen als weniger wichtig und lohnenswert empfunden werden als von Nichtbetroffenen.
Subjektiv unangenehme Dinge werden dadurch verhältnismäßig stärker aufgeschoben und oft erst in letzter Minute erledigt – erst dann rutschen sie in den stressbedingt auf das Hier und Jetzt verschobenen Fokus. Bis dahin sind sie zu weit weg um interessant zu sein.
Starker Stress sagt: jetzt erst mal überleben – genießen und erholen kannst Du Dich später.
Bei einer gesunden (kurzzeitigen) Stressreaktion ist dies richtig und hilfreich.
Weitere Bezeichnungen von “Delay Discounting” sind “Temporal Discounting”, “Intertemporal Choice” oder “Impulsive Choice”.7
Abwertung späterer Belohnungen / Delay Discounting kann als eine Umkehrung von Verzögerungsaversion / Delay Aversion (Abneigung gegen Warten, Ungeduld) betrachtet werden. Beides kann als Ausdruck einer stressbedingt veränderten Motivationslage aufgefasst werden. Ein Review betrachtet Delay Discounting als eine Unterform von Impulsivität.8 Die Kernbotschaft lautet: Überleben ist jetzt. Jetzt ist der Zeitpunkt, sich gegen relevante Gefahren zu wehren, alles was später ist, ist derzeit unwichtig. Alles, was wichtig ist, muss sofort passieren, Alles was nicht so wichtig ist, dass es nicht sofort passieren muss, kann warten, bis der Stressor besiegt ist.
9.2.1. Abwertung späterer Belohnung als ADHS-Symptom¶
ADHS-Betroffene leiden typischerweise an einer Belohnungsaufschub-Aversion: Lieber eine kleinere Belohnung sofort als die größere Belohnung später.8910 Hinzu treten inkonsistente Entscheidungsmuster.11
Für jeden Menschen sind sofortige Belohnungen intuitiv lohnenswerter als spätere Belohnungen. Die Abnahme des Wertes von späteren, zeitlich verzögerten Belohnungen ist jedoch bei ADHS-Betroffenen erheblich höher als bei Nichtbetroffenen. Während sofortige Belohnungen von ADHS-Betroffenen genauso bewertet werden wie von Nichtbetroffenen, bewerten ADHS-Betroffene später eintretende Belohnungen als erheblich niedriger bzw. weniger attraktiv als Nichtbetroffene.
ADHS-Betroffene zeigen daher eine signifikant schwächere Motivation durch Belohnungen, die in der Zukunft liegen. Es besteht ein stärkerer Anreiz durch sofort verfügbare Belohnungen.
Erscheinungsformen der Bevorzugung sofortiger Belohnung / Abwertung verzögerter Belohnung sind:
Suchtprobleme
Sucht und Streben nach sofortiger Belohnung
Der stärkere Anreiz von Sofortbelohnung scheint mit einer Suchtaffinität zusammenzuhängen. ADHS-Betroffene haben im Verstärkungszentrum des Gehirns (dem Striatum) möglicherweise signifikant weniger Dopamin D2 und D3 Rezeptoren als Nichtbetroffene. Die Anzahl dieser Rezeptoren korrelierte dabei in einer Studie mit Aufmerksamkeit: je weniger D2 und D3 Rezeptoren im Belohnungszentrum, desto geringer ist die Aufmerksamkeitsfähigkeit der Betroffenen.12 Aufmerksamkeitsprobleme könnten danach die selbe Ursache haben wie die Probleme des Belohnungssystems.
Eine andere Studie deutet dagegen auf eine erhöhte D2-Rezeptordichte im Striatum bei ADHS-Betroffenen hin.13
Prokrastination
Die Abwertung von Aufgaben, die nicht unmittelbar wichtig sind, ist eine verwandte Reaktion.
9.2.2. Abwertung späterer Belohnung als Stresssymptom¶
Auch Discounting of Delayed Rewards oder Temporal Discounting genannt14151617
Belohnungen, die sofort erfolgen, werden von Stress-Betroffenen genauso bewertet wie von Menschen ohne Stress.
Belohnungen, die zeitlich weiter entfernt sind, werden als noch unattraktiver betrachtet als von Menschen ohne Stress.
Ausdrucksformen:
Prokrastination
Suchttendenzen
Unordnung
schlechtere Selbstregulationsfähigkeit
Selbstregulationsfähigkeit ist ein noch besserer Prädiktor für beruflichen Erfolg als Intelligenz
Suchtprobleme stehen in engem Zusammenhang mit der Bevorzugung sofortigen Belohnung. Suchtprobleme sind typische Stresssymptome
Verzögerungsaversion (Delay Aversion) kann als das Spiegelbild von Abwertung späterer Belohnungen (Delay Discounting) beschrieben werden und den Gegenpol von Prokrastination im Sinne einer Regulationsstörung darstellen.
Verzögerungsaversion tritt bei Kindern wie bei Erwachsenen mit ADHS auf. Verzögerungsaversion ist ein zeitlich überdauerndes motivationales Defizit, das durch erhöhte subjektiv motivierende Anreize verringert oder beseitigt werden kann.20
9.3.1.1. Ungeduld; Warten wird als unangenehm empfunden¶
wenn andere nur langsam verstehen, treibt das in den Wahnsinn
Eltern erregen sich bei langsamem Verständnis ihrer Kindern bei Hausaufgaben21
Aufgaben werden begonnen, ohne die vorher die Anweisung anzuhören oder die Anleitung zu lesen.
Dies ist eines der 9 häufigsten Symptome für ADHS bei Erwachsenen.22
Bedienungsanleitungen vor Inbetriebnahme von Geräten werden allenfalls diagonal gelesen
Aufbauanleitungen von Möbeln werden ungern gelesen
besonders starke Abneigung gegen Staus, Warteschlangen; bis hin dazu, dass diese aggressiv machen können,21 wobei letzteres wohl den ADHS-I-Subtyp weniger betreffen dürfte
Schwierigkeiten zu warten bis man an der Reihe ist
innere Unruhe, wenn man nicht selbst handeln, sondern handeln anderer begleiten soll
z.B. Tendenz, Aufgaben anderer selbst auszuführen, statt es diese (ggf langsamer / schlechter, weil erst lernend) machen zu lassen
Tendenz, andere zu unterbrechen
Antworten erfolgen, bevor Frage zu Ende angehört wurde
Überbordende Ideen müssen schnell mitgeteilt werden, bevor sie drohen vergessen zu werden21
Schneller Autofahren als andere21
Dies ist ebenfalls eines der 9 treffsichersten Symptome von ADHS bei Erwachsenen.22
Anmerkung: Diese Verhaltensweisen finden sich auch bei Betroffenen von z.B. akuter (Hypo)Manie, narzisstischer oder zwanghafter Persönlichkeitsstörung.
Dass Langeweile als extrem unangenehm empfunden wird, dürfte eher einer Dysphorie bei Inaktivität zuzuschreiben sein
9.3.2. Korrelation von Verzögerungsaversion mit anderen Symptomen¶
Nach dem aktuellen Datenstand des ADxS-Symptomtests (Juni 2020, n = 1.889) scheint Verzögerungsaversion nicht allein aus einer Inhibitionsproblematik zu resultieren, wie sie Impulsivität zugrunde liegt, sondern korreliert deutlich stärker mit Innerer Unruhe und Frustrationsintoleranz als mit Impulsivität und als Impulsivität mit diesen. Ebenso scheint die Korrelation mit emotionaler Dysregulation im Vergleich zu Impulsivität erhöht.
Interessanterweise scheint die Korrelation von Verzögerungsaversion zu Prokrastination erheblich geringer als zu Impulsivität und die Korrelation von Prokrastination zu Impulsivität gleich zu der zu Verzögerungsaversion.
Symptome
Verzögerungsaversion / Ungeduld
Impulsivität
Innere Unruhe
0,85
0,69
Frustrationsintoleranz
0,79
0,57
Impulsivität
0,67
Verzögerungsaversion / Ungeduld
0,67
Belohnungsaufschubprobleme
0,58
0,46
Erholungsunfähigkeit
0,57
0,45
Unaufmerksamkeit
0,56
0,53
Hyperaktivität
0,55
0,59
erhöhte Sensibilität
0,53
0,43
Rejection Sensitivity
0,53
0,41
Prokrastination
0,34
0,34
Stand Juni 2020. n = 1.889- Die angegebenen Werte geben die Korrelation der Symptome relativ zueinander wieder.Es handelt sich um einen nicht validierten Online-Selbsttest (Screening).
Verzögerungsaversion wird auch als Impulsivitätsreaktion verstanden. Es korreliert mit Impulsivität bei Stress, bei Frauen zugleich mit steigender Herzrate.2324
Stress verringernde Maßnahmen verringern zugleich die Verzögerungsaversion.14