Autor: Ulrich Brennecke
Review: Dipl.-Psych. Waldemar Zdero
ADHS-Betroffene zeigen oft impulsives Verhalten, indem sie sich ungefragt in Gespräche und Aktivitäten anderer einmischen. Impulsivität geht mit Hyperaktivität (bei Erwachsenen: innere Unruhe) Hand in Hand. Die Missachtung sozialer Normen und Regeln führt häufig zu sozialer Ablehnung.
Sozialer Rückzug ist ein häufiges Symptom bei ADHS. Es entsteht aus verschiedenen Gründen, z. B. weil keine positive Resonanz erwartet wird oder das Sicherheits- und Kontrollbedürfnis zu groß ist. Mädchen mit ADHS zeigen häufiger einen sozialen Rückzug und haben mehr Schwierigkeiten, anerkannt zu werden. Erwachsene ADHS-Betroffene haben Schwierigkeiten, Probleme in sozialen Situationen zu lösen, insbesondere aufgrund von Ängsten vor sozialer Interaktion.
Bei ADHS können sowohl herabgesetzte Fähigkeiten zur Erkennung von Emotionen anderer als auch erhöhte soziale Ängste auftreten, die naturgemäß soziale Probleme weiter verstärken.
Einsamkeit tritt oft als Folge des sozialen Rückzugs auf und geht mit erhöhten introvertierten Symptomen einher.
ADHS ist mit einem erhöhten Risiko für soziale Ausgrenzung verbunden.
12.1. Impulsive Missachtung sozialer Regeln bei ADHS¶
ADHS-Betroffene mischen sich häufiger sich ungefragt in Gespräche / Aktivitäten anderer ein. Dies korreliert mit Impulsivität und tritt daher häufiger bei ADHS-HI und ADHS-C auf.
Impulsive Missachtung von sozialen Normen und Regeln führt zu sozialer Ablehnung.
Kinder mit ADHS zeigen häufig ein unangemessenes Sozialverhalten.
12.2. Probleme mit Freundschaften¶
12.2.1. Probleme mit wechselseitigen Freundschaften¶
ADHS-Betroffene leiden häufig unter sozialen Problemen in wechselseitigen Beziehungen.
Dieses Symptom bleibt in der Regel über die gesamte Lebensspanne der Störung bestehen.
Erwachsene mit ADHS haben häufig Probleme mit Freundschaften und eine schlechtere soziale Interaktion.
12.2.2. Beziehungsprobleme¶
Erwachsene mit ADHS haben häufiger schlechtere intime Beziehungen und zeigen eine schlechtere Anpassungsfähigkeit in der Ehe.
12.2.3. Probleme mit Empathie und Theory of Mind¶
Kinder mit ADHS zeigen Beeinträchtigungen der Empathie.
Kinder mit ADHS zeigten signifikant schlechtere Theory of Mind (ToM)-Leistungen, was mit Problemen der Exekutivfunktionen zu korrelieren scheint. MPH normalisierte die ToM-Leistung auf das Maß Nichtbetroffener. MPH verbessert auch die Empathie bei ADHS-Betroffenen.
Bei Erwachsenen mit ADHS fanden sich ebenfalls Beeinträchtigungen der Empathie, aber keine Beeinträchtigungen der ToM.
12.2.4. Probleme der Verbundenheitskonstanz und Verbundenheitspermanenz¶
Der Begriff Objektkonstanz meint bei Kleinkindern die Entwicklung einer konstanten (emotionalen) Bindung an die (mütterliche) Bezugsperson. Er beschreibt die Fähigkeit des Kindes, eine Beziehung aufrechtzuerhalten, die relativ unabhängig von Bedürfnisbefriedigung ist. Davon abzugrenzen ist der Begriff der Objektpermanenz, der bei Kleinkindern die Entwicklung des (kognitiven) Wissens darüber meint, dass Personen oder Objekte, die das Wahrnehmungsfeld verlassen, dennoch weiter existieren.
Die Entwicklung von Objektpermanenz (ab 8 Monate) und Objektkonstanz (ab 2 Jahre) sind generelle Entwicklungsphasen.
Die folgende Beschreibung ist nicht durch Studien abgesichert. Es handelt sich jedoch um eine Wahrnehmung, die von vielen ADHS-Betroffenen geteilt wird.
Ähnlich wie bei Empathie, die sich in kognitive Empathie (Wissen, was einen anderen bewegt) und emotionale Empathie (Mitfühlen, was ein anderer fühlt) unterteilt, sehen wir eine emotionale und eine kognitive Problematik der Objektkonstanz / Objektpermanenz bei ADHS.
Wir meinen mit Problemen der Objektkonstanz bei ADHS, dass viele Betroffene berichten, das Gefühl für eine Bezugsperson (Freunde, Partner) zu verlieren, wenn diese (längere Zeit) nicht anwesend ist. Das Gefühl der Zuneigung und Verbundenheit für einen geliebten Menschen geht verloren, wenn dieser einen oder mehrere Tage abwesend ist. Dies kann so ausgeprägt sein, dass Betroffene an ihrer Fähigkeit, zu lieben, zu zweifeln beginnen.
Davon zu unterscheiden ist, dass viele ADHS-Betroffene Dinge leichter vergessen, oder Schwierigkeiten haben, Dinge wiederzufinden, wenn diese in geschlossenen Behältern, Schränken oder anderen Räumen aufbewahrt sind. Sie berichten ein sehr unmittelbares “Aus den Augen, aus dem Sinn”. In Abgrenzung zur Objektpermanenz bei Kleinkindern ist das Verständnis, dass Dinge, die außerhalb des Sichtfelds sind, weiter existieren, nicht beeinträchtigt. Die Dinge werden vielmehr vergessen und geraten so aus dem Bewusstsein.
Ein klassisches ADHS-Meme ist die Geschichte des Putzens einer Wohnung. Es wird mit Putzeimer und Wischmob im ersten Zimmer begonnen. Dabei fällt etwas auf, das in ein anderes Zimmer gehört und dorthin gebracht wird. Dort findet sich etwas, das in einen dritten Raum gehört. Von dort aus wird noch etwas in den Keller gebracht. ADHS-typisch ist die Überraschung beim Wiederbetreten des ersten Raums, dass dort ein Putzeimer und ein Wischmob stehen. Dieses Phänomen lässt sich durch die Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses bei ADHS als neurophysiologisches Korrelat erklären.
Näher am Problem der Objektkonstanz liegen dagegen die häufigen Berichte, dass Dinge, die außerhalb des Sichtfeldes untergebracht sind, nicht mehr erinnert werden, da dies eher das Langzeitgedächtnis als das Kurzzeitgedächtnis betrifft. Daher kann es ADHS-Betroffenen helfen, offene Regale oder transparente Aufbewahrungskisten zu verwenden.
Ein beeinträchtigtes Arbeitsgedächtnis kann jedoch unserer Auffassung nach nicht den Verlust der emotionalen Verbundenheit mit abwesenden Personen erklären. Offen ist, inwieweit dies mit einer Beeinträchtigung des Langzeitgedächtnisses korreliert.
Um von den entwicklungspsychologisch besetzten Begriffen Objektpermanenz und Objektkonstanz abzugrenzen, schlagen wir für den ADHS-Kontext die Begriffe Verbundenheitskonstanz (emotionale Verbundenheit) und Verbundenheitspermanenz (kognitive Verbundenheit) vor.
12.3. Sozialer Rückzug / soziale Phobie bei ADHS¶
12.3.1. Sozialer Rückzug als ADHS-Symptom¶
Sozialer Rückzug ist eine Einschränkung bei sozialen Kontakten, weil entweder keine positive oder sogar negative Resonanz erwartet wird (⇒ Rejection Sensitivity) oder das Sicherheits- und Kontrollbedürfnis zu groß ist (zu große Nähe, Ambivalenz, Nähe-Distanz-Pendel). Andere Studien legen eine Verbindung zwischen einem erhöhten Wunsch nach Rückzug und Einsamkeit und internalisierender Symptomatik nahe.
Ein sozialer Rückzug von ADHS-Betroffenen, der bis hin zu einer Sozialphobie vor Menschen gehen kann, korreliert offenbar nur bei Mädchen mit einem erhöhten Außenseiterdasein und hat mehrere Mechanismen als Ursache.
Erwachsene ADHS-Betroffene zeigten in einer Untersuchung zur Fähigkeit der sozialen Problemlösung gleich gute Leistungen in Bezug auf die Theory of Mind, die Erarbeitung der “besten” Lösung für problematische soziale Situationen und die Auswahl der optimalen Lösung aus verschiedenen Alternativen. Die allgemeine Fähigkeit, Problemlösungen flüssig und frei zu generieren, war nicht an die Exekutivfunktionen oder an den Trait der Empathie gebunden. Sie wurde lediglich durch Angst vor sozialer Interaktion beeinträchtigt.
Angst vor sozialen Kontakten (Sozialphobie) hemmt die sozialen Fähigkeiten maßgeblich.
Andere Studien fanden bei Erwachsenen mit ADHS dagegen herabgesetzte Fähigkeiten der Erkennung von Emotionen anderer (Probleme der Theory of Mind), die mit Exekutivproblemen korrelierten.
Darüber hinaus führen die ablehnenden Reaktionen der Umwelt auf die eigenen Symptome zu einer negativen Bewertung von sozialen Kontakten.
Das Symptom der Sozialphobie tritt nach den Ergebnissen unseres Symptomtests zwar ungefähr gleich häufig bei 73 % der ADHS-HI-Betroffenen (mit Hyperaktivität) und 70 % der ADHS-I-Betroffenen auf, ist in seiner Ausprägungsstärke jedoch bei ADHS-HI-Betroffenen mit 0,63 deutlich schwächer als bei ADHS-I-Betroffenen mit 0,73 (auf einer Skala von 0 bis 1). Lediglich 15 % der Nichtbetroffenen erreichten die Schwelle des Symptoms. ADHS-I-Betroffene erreichten zudem zu 98 % den Cutoff des Symptoms Angst (mit einer Schwere von 0,89), gegenüber 93 % der ADHS-HI-Betroffenen mit einer Schwere von 0,84.
Daneben dürfte der zu weit offene Reizfilter mit der hieraus resultierenden erhöhten Sensibilität die Grenzen der ertragbaren Reize so weit reduzieren, dass ein Rückzug von den als anstrengend empfundenen Einflüssen Dritter einen plausiblen und notwendigen Abwehrmechanismus darstellt. Viele erhöht sensible Menschen berichten, dass sie auf Partys nach einer gewissen Zeit fliehen oder sich in ruhigere Räume zurückziehen (Küche, Balkon, WC).
Neurophysiologisch ist die Aktivierung von Oxytocin-Rezeptoren im ventralen Tegmentum für ein belohnungsgesteuertes Interesse an sozialen Kontakten essenziell.
Interessanterweise scheint soziale Kompetenz bei Mädchen und Frauen (wie überall) auch bei ADHS höher zu sein als bei Jungen und Männern. Bei Autismusspektrumsstörungen war dieser Zusammenhang umgekehrt und altersabhängig.
ADHS geht mit einem erhöhten Risiko sozialer Ausgrenzung einher. Dies könnte unabhängig von einer Tendenz zu sozialem Rückzug durch die Betroffenen selbst stehen und sich mit diesem Effekt summieren.
12.3.2. Sozialer Rückzug als Stresssymptom¶
Sozialer Rückzug ist als typisches Symptom von schwerem Stress bekannt. Eine Einschränkung der sozialen Kontakte bei Stress wird darauf zurückgeführt, dass:
- keine positive oder sogar negative Resonanz erwartet wird (Vermeidung oder Aggression, ⇒ Rejection Sensitivity)
- das Sicherheits- und Kontrollbedürfnis zu groß ist (zu große Nähe, Ambivalenz, Nähe-Distanz-Pendel)
Ein erhöhtes Rückzugsverhalten ist eine unmittelbare Wirkung des Stresshormons CRH.
Eine zunehmende Einschränkung sozialer Kontakte ist ein typisches Symptome für einen Burnout.
12.4. Einsamkeit als ADHS-Symptom¶
Einsamkeit ist ein ADHS-Symptom und häufig eine Folge des sozialen Rückzugs und geht bei ADHS eher mit erhöhten introvertierten Symptomen einher. Einsamkeit dürfte damit eher bei ADHS-I als bei ADHS-HI auftreten.
12.5. Sozialer Jetlag durch verschobenen Tagesrhythmus¶
Da bis zu 80 % der ADHS-Betroffenen einen nach hinten verschobenen circadianen Rhythmus haben, ist der gesamte biologische Tagesablauf gegenüber den meisten anderen Menschen verschoben. Dies führt in der Folge häufig zu sozialen Problemen (für die Schlafmangel nur eine von mehreren Ursache ist), die mit dem Fachbegriff sozialer Jetlag bezeichnet werden. Der Begriff sozialer Jetlag wurde 2013 erstmals von Roenneberg et al geprägt und bezeichnet das Auseinanderfallen von biologischem und sozialem Zeitrhythmus.
Mehr hierzu unter Schlafprobleme bei ADHS im folgenden Beitrag.
12.6. Probleme bei sozialer Kognition (Erkennung sozialer Zeichen)¶
ADHS geht mit häufigeren Defiziten in der sozialen Kognition einher. Dies umfasst Beeinträchtigungen der sozialen Kognition in Bezug auf die Wahrnehmung von Gesichtern und Prosodien (Feinheiten der Bedeutung von Betonung, Intonation und relativer Dauer von Lauten und Silben in der gesprochenen Sprache). Diese Erkennungsschwächen können die Qualität des sozialen Funktionierens weiter beeinträchtigen und soziale Probleme zusätzlich verstärken. Bei FASD scheint dieser Mechanismus noch ausgeprägter zu sein.