Lediglich theoretisch ist die Arzneimittelkonzentration proportional zur verabreichten Arzneimitteldosis. In der allgemeinen pharmakologischen Praxis zeigen sich hohe interindividuelle Unterschiede um den Faktor 8 bis 30.
Für die Findung der individuell passenden Dosis eines Medikaments sind Daten aus Zulassungsstudien wenig hilfreich. In diesen wird nur der Dosis-Effekt-Zusammenhang untersucht, nicht aber die Medikamentenkonzentration. In Fachinformationen, Beipackzetteln und Lehrbüchern angegebene Dosierungen für ein Medikament beziehen sich auf den Durchschnitt der gesamten Population der Betroffenen. Diese Angabe ist als Anhaltspunkt durchaus hilfreich, darf jedoch für den individuellen Betroffenen nicht als Maß der Dinge betrachtet werden, die sich in vielfältiger Weise unterscheiden:
- Geschlecht
- Größe
- Gewicht
- Alter
- Compliance
- Leber und Nierenerkrankungen
- Komorbiditäten
- pharmakokinetische Arzneimittelwechselwirkungen
- Ernährungs-Wechselwirkungen (xenobiotische Wechselwirkungen)
- Interaktionen durch Drogen
- Metabilisierungsgenvarianten.
In Bezug auf ADHS-Medikamente und ihre Anwendung und Wirkung gibt es nur wenige allgemeingültige Daten. Während die Herstellerangaben zu Methylphenidat einigermaßen realistisch sind und Abweichungen eher individueller Natur sind, wird die angegebene Wirkdauer von Elvanse nur von einer kleinen Gruppe von Betroffenen erreicht.
Bei ADHS müssen Medikamente jedoch ohnehin stets in besonderem Maße individuell ausgetestet und angepasst werden.
Dieser Beitrag widmet sich den Faktoren, die die Response und der Medikamentenwirkdauer einer Einzeldosis bei ADHS-Medikamenten individuell beeinflussen.
1. Wirkdauer von Wirkstoffen und Präparaten bei ADHS¶
1.1. Herstellerangaben der Wirkdauer¶
Die Angaben für in den USA erhältliche Medikamente stammen von Rodden. Dia Angaben in der Tabelle geben Mittelwerte wieder, sofern nicht anders vermerkt.
Die tatsächliche Wirkdauer ist individuell verschieden und hängt stark vom Stoffwechsel des jeweils Betroffenen ab. Ca. 5 % der Betroffenen sind Superschnellverstoffwechsler. Bei diesen kann aufgrund erhöhter CES1-Aktivität die Wirkung von unretardiertem MPH auch nur 1 Stunde oder die eines Halbtagesretardpräparates anstatt 5 bis 6 Stunden auch nur 1,5 oder 2 Stunden andauern. Ebenso, wenn auch offenbar seltener, gibt es Betroffene, bei denen ein Präparat wesentlich länger wirkt.
Zum Metabolismus von Methylphenidat und Amphetaminmedikamenten siehe unten. Dort finden sich auch ausführlichere Angaben zur Pharmakokinetik, z.B. Geschwindigkeit der Wirkung und Verteilung der Wirkkurve.
Gerade bei Halbtagesretardpräparaten wird für eine Tagesabdeckung in aller Regel zur Mittagszeit eine zweite Medikamentendosis benötigt, die regelmäßig niedriger dosiert ist.
Eine nur halbtägige Behandlung ist nicht sinnvoll. ADHS ist keine Vormittagsstörung.
Methylphenidat-Präparate |
Wirkstoff |
typische Wirkdauer in Stunden (lt. Hersteller) |
retardiert |
Land |
Ritalin, Methylphenidat HEXAL, Methylpheni TAD unretardiert, Medikinet unretardiert, Methylphenidat Generika |
Methylphenidat |
2,5 - 3,5; 3 - 4; 3,06 Stunden (2,5 bis 3,875 / 1. Quartil bis 3. Quartil) |
unretardiert |
EU, USA |
Methylin Liquid |
Methylphenidat |
3 - 4 |
unretardiert |
USA |
Ritalin SR |
Methylphenidat |
5–8 Stunden Wirkzeit theoretisch, 3–5 Stunden Wirkzeit praktisch, 8 |
kontinuierliche Freisetzung |
EU |
Focalin |
Dexmethylphenidat |
4 - 6 |
unretardiert |
CH, USA |
Equasym Retard/XL |
Methylphenidat |
6 - 8 / 8 |
Zwei-Phasen-Retardierung |
EU |
Medikinet adult (Erwachsene), Medikinet retard (Kinder) (bioäquivalent) |
Methylphenidat |
6 - 8; 4,65 Stunden (4,0 bis 5,0 / 1. Quartil bis 3. Quartil) |
Zwei-Phasen-Retardierung |
EU |
Ritalin LA, Ritalin Adult (bioäquivalent) |
Methylphenidat |
6 - 8 / 8 ; 4,6 Stunden (3,38 bis 6,0 / 1. Quartil bis 3. Quartil) |
|
EU; USA nur Ritalin LA |
Methysym |
Methylphenidat |
bis zu 8 |
retardiert |
seit 01.06.2021 in D |
Metadate CD |
Methylphenidat |
8 - 10 |
retardiert |
USA |
Daytrana |
Methylphenidat |
10 (bei Tragezeit von 9 Stunden) |
Pflaster |
USA |
Concerta, Methylphenidathydrochlorid-neuraxpharm (bioäquivalent) |
Methylphenidat |
8 - 12, 10 - 12, 12; 10,2 Stunden (7,5 bis 11,5 / 1. Quartil bis 3. Quartil) |
retardiert |
D, CH, USA |
Focalin XR |
Dexmethylphenidat |
8 - 12 |
retardiert |
CH, USA |
Methylphenidathydrochlorid Ratiopharm |
Methylphenidat |
12 |
retardiert |
EU |
Methylphenidathydrochlorid Hexal |
Methylphenidat |
12 |
retardiert |
EU |
Kinecteen |
Methylphenidat |
12 |
retardiert |
EU |
Aptensio XR |
Methylphenidat |
12 |
retardiert |
USA |
Cotempla XR-ODT |
Methylphenidat |
12 - 13 |
retardiert |
USA |
Quillichew ER |
Methylphenidat |
12 - 13 |
retardiert |
USA |
Quillivant XR |
Methylphenidat |
12 - 13 |
retardiert |
USA |
Jornay PM |
Methylphenidat |
12 - 14 |
retardiert |
USA |
Amphetamin-Präparate |
Wirkstoff |
Wirkdauer in Stunden (lt. Hersteller) |
retardiert |
Land |
Dexedrin |
Dextroamphetamin |
3 - 4 |
unretardiert |
USA |
ProCentra |
Dextroamphetamin |
3 - 6 |
unretardiert |
USA |
Zenzedi |
Dextroamphetamin |
3 - 6 |
unretardiert |
USA |
Desoxyn |
Methamphetamin |
4 - 6 |
unretardiert |
USA |
Adderall |
Amphetamin-Mischsalze |
4 - 6 |
unretardiert |
USA |
Evekeo |
Amphetamin-Sulfat |
4 - 6 |
unretardiert |
USA |
Attentin |
Dextroamphetamin |
5 - 6 |
unretardiert |
Deutschland, seit Ende 2011 |
Dexamin |
Dextroamphetamin |
5 - 6 |
unretardiert |
Schweiz, als Magistralrezeptur |
Dexedrine ER |
Dextroamphetamin |
5 - 10 |
retardiert |
USA |
Adderall XR |
Amphetamin-Mischsalze |
10 - 12 |
retardiert |
USA |
Adzenys ER |
Amphetamin |
10 - 12 |
retardiert |
USA |
Adzenys XR-ODT |
Amphetamin |
10 - 12 |
retardiert |
USA |
Elvanse (Kinder), Elvanse adult (Erwachsene) |
Lisdexamfetamin |
13 (Kinder); 14 (Erwachsene) (in der Praxis teils deutlich niedrigere Werte); 8,53 Stunden (6,0 bis 10,0 / 1. Quartil bis 3. Quartil) |
Prodrug |
EU, USA |
Dyanavel XR |
Amphetamin |
13 |
retardiert |
USA |
Mydayis |
Amphetamin-Mischsalze |
14 - 16 |
retardiert |
USA |
Nichtstimulanzien |
Wirkstoff |
Wirkdauer in Stunden (lt. Hersteller) |
retardiert |
Land |
Strattera, Agakalin |
Atomoxetin |
ganztägig / individuell 8 bis 21 Stunden |
unretardiert |
USA |
Intuniv |
Guanfacin |
ganztägig; Spitzenkonzentration nach ca. 5 Stunden; Eliminationshalbwertszeit ca. 18 Stunden |
retardiert |
USA |
Der Verlauf der Wirkkurven unterscheidet sich je nach Präparat erheblich. |
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1.2. Erfahrungswerte der Wirkdauer¶
Zwei Onlineumfragen unter Betroffenen im deutschsprachigen adhs-forum.adxs.org (80 Teilnehmer) und in einem englischsprachigen Subreddit zu Elvanse (467 Teilnehmer), wie lange eine Einzeldosis Elvanse bei ihnen wirke, ergaben:
Wirkdauer Einzeldosis Elvanse |
Teilnehmer (von 547) |
5 Stunden und weniger |
40,8 % |
6 bis 7 Stunden |
26,7 % |
8 bis 9 Stunden |
15,4 % |
10 bis 11 Stunden |
11 % |
12 Stunden und mehr |
6,2 % |
Die Verteilung in Richtung einer sehr viel kürzeren Wirkdauer als nach den Herstellerangaben von 10 bis 12 Stunden ist sehr deutlich. Bei über einem Drittel wirkt eine Einzeldosis nur bis zu 5 Stunden, bei insgesamt zwei Dritteln 7 Stunden oder weniger. Nur 17,2 % der Betroffenen erreichen die vom Hersteller angegebene Wirkdauer von 10 bis 12 Stunden. Dies deckt sich zugleich mit den zahlreichen Berichten von Elvanse-Nutzern im Forum, die mehr als eine Einzeldosis am Tag benötigen. Manche Nutzer benötigen 3 Dosen (wobei die letzte Dosis meist niedriger ist als die vorangehenden).
Eine detailliertere Umfrage, die alle ADHS-Medikamente umfasst und auch Dosis, Alter und Geschlecht berücksichtigt, startete im März 2023 und dürfte im zweiten Halbjahr 2023 erste belastbare Ergebnisse bringen. Jeder, der ADHS-Medikamente einnimmt, ist eingeladen, an dieser teilzunehmen:
https://www.adxs.org/de/form/drug-effect-duration (deutsche Fassung)
In dieser detaillierteren Umfrage gaben rund 40 % der Elvanse-Einnehmer eine Einzeldosiswirkdauer von 7 Stunden oder weniger an. Die mittlere Wirkdauer lag bei 8,53 Stunden (6,0 bis 10,0 / 1. Quartil bis 3. Quartil).
Interessanterweise fanden sich auch mehrere Betroffene, bei denen nicht nur Elvanse/Vyvanse, sondern auch Methylphenidat sehr viel kürzer wirkt. Da Elvanse/Vyvanse und MPH von unterschiedlichen Enzymen verstoffwechselt werden, deutet dies auf andere Mechanismen als überaktive Enzym-Genvarianten hin, wie sie in diesem Beitrag ebenfalls erläutert werden.
Im Folgenden erläutern wir die Einflussfaktoren, die die Dauer der Medikamentenwirkung (insbesondere bei ADHS-Medikamenten) individuell beeinflussen können.
2. Dosishöhe¶
Innerhalb einer Person wirken höhere Dosen von Amphetamin länger.
Die Wirkdauer von Methylphenidat-Präparaten ist dagegen dosisunabhängig.
3. Magen-Passage-Geschwindigkeit¶
Neben der Dünndarm-Passage-Geschwindigkeit spielt die Magenfunktion eine Rolle. Magenmotilität und Entleerungsrate beeinflussen, wie schnell eine Substanz den Dünndarm erreicht. So ist bei Paracetamol die Magenentleerung der geschwindigkeitsbestimmende Schritt für das Erscheinen der Substanz im Blutplasma. Eine verzögerte oder auch beschleunigte Magenentleerung kann somit die Kinetik oral aufgenommener Medikamente grundlegend beeinflussen, sodass z. B. die notwendigen Wirkspiegel nicht oder nur verzögert erreicht werden.
4. Dünndarm-Passage-Geschwindigkeit¶
“Bei Arzneimitteln, die eingenommen werden, stellt die Passagezeit durch Magen und Dünndarm eine natürliche Obergrenze für die Wirkstofffreisetzung dar: Wenn die Tablette den Dünndarm verlassen hat, kann nichts mehr aufgenommen werden, die Freisetzung ist dadurch auf einen Zeitraum von etwa 8-10 Stunden begrenzt.”
Individuell kann sich diese Zeit unterscheiden, wie sich die Geschwindigkeit der Darmpassage unterscheidet. Dies dürfte der Grund sein, warum es vereinzelt Superschnellverstoffwechsler sind, die von einer Wirkdauer von Medikinet von 1 bis 2 Stunden und von Elvanse von 3 Stunden berichten. Diese berichten ebenso, dass sie sehr viel häufiger am Tag etwas essen müssen als andere.
Für eine (nicht nur im Durchschnitt) längere Wirkzeit als die Darmpassage bedarf es daher Mechanismen, die über die Aufnahme aus dem Dünndarm hinausgehen.
5. Säurehaushalt¶
pH-Wert kann - in Abhängigkeit von der Dauer der Säureaussetzung - beeinflussen:
- Löslichkeit von Wirkstoffen
- Stabilität von Wirkstoffen
Der übliche pH-Wert im Magen beträgt:
- nüchtern pH 1–2
- bei Nahrungsaufnahme ansteigend
- je nach Art und Menge auf bis zu pH 5–6
- danach Rückgang auf Ausgangswert
Der ph-Wert hat eine Spanne von 0 bis 14. Ein niederiger pH-Wert (<7) steht für sauer, ein hoher Wert für basisch.
Überschüssige Säuren werden durch Puffersysteme abgefangen, über die Atmung und die Nieren ausgeschieden
An tierischem Eiweiß reiche Lebensmittel bilden als Stoffwechselendprodukte Säuren:
Z.B. Fleisch, Fisch, Käse, Eier
Pflanzliche Nahrungsmittel bilden vorwiegend Basen.
Z.B. Obst, Gemüse, Blattsalate, Vollkornprodukte
Fette und Kohlenhydrate beeinflussen den Säure-Basen-Haushalt normalerweise nicht.
5.1. Säurehaushalt und Amphetaminmedikamente¶
Amphetaminmedikamente:
- verkürzte Wirkungsdauer durch hohen Urin-Säuregehalt (niedriger pH-Wert), z.B. durch
- Ascorbinsäure (Vitamin C)
- Thiaziddiuretika
- Tier-Eiweißreiche Ernährung
- Diabetes
- respiratorische Azidose
- verlängerte Wirkungsdauer durch niedrigen (alkalisierten) Urin-Säuregehalt (hoher pH-Wert), z.B. durch
- Natriumhydrogencarbonat
- Ernährung mit einem hohen Anteil an Obst, Gemüse, Vollkorn
- Harnwegsinfektionen
- Erbrechen
- Ernährungsumstellung z. B. von fleischhaltiger auf vegetarische Kost
- massive Einnahme von Mitteln zur Neutralisierung der Magensäure
5.2. Säurehaushalt und Methylphenidat¶
Medikinet adult:
Bei einem Magen-pH-Wert über 5,5 kann es bei Medikinet adult zu Dose-Dumping-Phänomenen kommen: Der Wirkstoff wird zu schnell freigesetzt und entfaltet dadurch erhöhte Wirkungen und Nebenwirkungen. Dies kann verursacht werden u.a. durch
- Protonenpumpenhemmer (z.B. Pantoprazol, Omeprazol)
- Antazida
- H2-Antagonisten (z.B. Ranitidin, Famotidin) (weniger wahrscheinlich)
Ein Betroffener berichtete von einer kaum gegebener Wirkung von Medikinet von 20 bis 60 mg. Der zusätzliche Verzehr von trockenen Reiswaffeln führte zu einer zeitweiligen Wirkung, die nicht vorhersehbar war. Die zusätzliche Einnahme von Antazida (Magensäurehemmer) ergab eine zuverlässige Wirkung von MPH.
Ritalin adult
Ritalin adult setzt MPH dagegen pH-unabhängig frei. Die Fachinformation nennt hier eine Resorptionsverminderung als wahrscheinliche Interaktion mit Antazida.
5.3. Säurehaushalt und Memantin¶
Memantin:
- Verlängerte Wirkung durch alkalisierten Urin
- Bei alkalischem Urin (hoher pH-Wert) kann die renale Eliminationsrate von Memantin um den Faktor 7 bis 9 reduziert sein.
6. Leberfunktion¶
6.1. Alter¶
Die hepatische Metabolisierung kann sich im Alter verlangsamen, unter anderem durch eine schlechtere Durchblutung der Leber.
6.2. Krankheiten¶
Erkrankungen der Leber können die Leberfunktionalität (stark) einschränken. Eine verringerte Eiweißsynthese in der Leber verringert automatisch die Plasmaproteinbindung, was den Abbau von Stoffen durch die Enzyme in der Leber abschwächt.
Bei einer Einschränkung der Gallensaftproduktion in der Leber wird die Ausscheidung großer Moleküle reduziert und der enterohepatische Kreislauf beeinträchtigt.
6.3. First-Pass-Effekt¶
“Die Darmvenen werden über die Leber zum Herzen geführt, sodass ein im Darm resorbierter Stoff eine Leberpassage durchmacht, bevor er über große Hohlvene und Herz weiter verteilt werden kann. Falls ein Stoff diese erste Leberpassage nur in geringem Maße übersteht, spricht man von einem hohen First-Pass-Effekt. Ergebnis dieses Effektes ist, dass trotz guter Resorption nur kleine Mengen des Wirkstoffs systemisch zur Verfügung stehen. Durch den “First-pass-Effekt” können Substanzen schnell in der Leber verändert oder inaktiviert werden (präsystemische Elimination).”
Auch der First-Pass-Effekt unterliegt individuellen Unterschieden.
7. Renaler Blutfluss¶
Da Amphetamin über die Nieren ausgeschieden wird, spielt neben der Gesamtdosis auch der renale Blutfluss eine zwar geringe, aber messbare Rolle für die Wirkungsdauer.
Eine weitere Folge davon ist, dass sich der Amphetamin-Blutspiegel langsamer verändert und weniger anfällig für Rebound ist als bei Methylphenidat,
8. Nahrungsaufnahme¶
8.1. Nahrungsaufnahme als Voraussetzung für Retardwirkung¶
Bei Medikinet adult und Medikinet retard ist eine vorhergehende oder gleichzeitige Nahrungsaufnahme Voraussetzung für die retardierte Wirkstofffreisetzung. Unterbleibt die Nahrungsaufnahme, wird das MPH doppelt so schnell freigesetzt. Die freigesetzte MPH-Dosis ist mithin in etwa verdoppelt und die Wirkdauer in etwa halbiert.
Andere Retardpräparate verwenden andere Mechanismen zur retardierten Wirkstofffreisetzung, die nicht auf eine gleichzeitige Nahrungsaufnahme angewiesen sind, wie z.B.
- Ritalin adult
- Ritalin LA
- Methysym
- Equasym Retard/XL
- Methylphenidathydrochlorid-neuraxpharm
- Kinecteen
- Methylphenidathydrochlorid Ratiopharm
- Methylphenidathydrochlorid Hexal
8.2. Nahrungsaufnahme beeinflusst Wirkdauer¶
Unabhängig von der Notwendigkeit für die retardierende Wirkung bei einigen MPH-Präparaten beeinflussen bestimmte Formen der Nahrungsaufnahme die Wirkung und Wirkdauer von Stimulanzien.
Lisdexamfetamin (Elvanse) hat bei fettreichen Mahlzeiten einen um eine Stunde verzögerten maximalen Blutspiegel (4,7 Stunden anstatt 3,8 Stunden nach Einnahme). Andere Parameter, wie z.B. die Wirkungsdauer, ändern sich jedoch nicht.
Ein Betroffener berichtet:
“Ich nehme Medikinet adult durchgängig nun seit drei Monaten und habe auch lange gebraucht, meine richtige Einstellung zu finden. Neben der Dosis (bei mir 20-10-0) sind auch andere Bedingungen zur Nahrungsaufnahme bei mir wichtig gewesen. Zu viel Essen während der Einnahme ist bei mir problematisch, zu wenig auch. Und ich habe eine bessere Wirkung, wenn ich zur Einnahme etwas Kohlenhydratlastiges zu mir nehme.”
9. Körperliche Betätigung / Sport¶
Einzelne Betroffene berichten, dass intensiver Sport die Wirkdauer von Stimulanzien um bis zu 40 % verkürzen kann.
10. Rezeptor-/Transporter-Sensibilität¶
Arzneimittel können an Rezeptoren, Ionenkanäle oder Enzyme binden und dort Wirkungen auslösen. Die Empfindlichkeit dieser Empfängerstrukturen beeinflusst die Wirksamkeit.
Die Empfindlichkeit der Empfängerstrukturen kann durch Varianten der d´sie codierenden Gene beeinflusst werden.
Beispiele:
- Eine Kombination von sechs Polymorphismen in Genen, die für die 5-HT2A-, 5-HT2C-, Histamin-H2-Rezeptoren und den SERT codieren, prognostizierte mit knapp 80 %-iger Wahrscheinlichkeit das Ansprechen auf Clozapin bei Schizophrenie
- Fehlende Wirkung von Tamoxifen beim Mammakarzinom bei fehlender Östrogenrezeptorexpression
- Bei ADHS-Medikamenten wird ein Einfluss des DAT-Gens auf die MPH-Response erörtert
Daneben können Varianten von Genen, die für den Abbau von Neurotransmittern zuständig sind (hier: COMT in Bezug auf Dopamin), die Wirkung von Medikamenten beeinflussen.
Bei Trägern des COMT Val-158-Met Gen-Polymorphismus erhöht Amphetamin die Effizienz des PFC bei Probanden mit vermutlich geringem Dopaminspiegel im PFC. Bei Trägern des COMT Met-158-Met-Polymorphismus hatte Amphetamin dagegen keinen Effekt auf die kortikale Effizienz bei niedriger bis moderater Arbeitsgedächtnislast und verursachte eine Verschlechterung bei hoher Arbeitsspeicherlast. Individuen mit dem Met-158-Met-Polymorphismus scheinen ein erhöhtes Risiko für eine nachteilige Reaktion auf Amphetamin zu haben.
11. Blut-Hirn-Schranke¶
Eine grundlegende Einführung zur Blut-Hirn-Schranke in deutscher Sprache findet sich unter Psysiologie.cc.
Transport: An der Aufnahme in und der Ausscheidung aus dem Organismus sowie dem Übertritt von Medikamenten aus dem Blut in das Gewebe sind Transportproteine beteiligt.
11.1. Konkurrenz der Transporternutzung¶
Eine Konkurrenz verschiedener Stoffe hinsichtlich des Transports durch die Hirnschranke kann die Wirkung von Medikamenten beeinflussen.
Beispiel:
Memantin, Opiate (Oxycodon, Codein), Tramadol, Kokain und Nikotin werden mittels derselben Transporterfamilie (Organischer Kationentransporter, OCT) durch die Blut-Hirn-Schranke transportiert. Da OCT einer Sättigungsgrenze unterliegen, könnte dieser gemeinsame Transportmechanismus den Memantin-Spiegel im Gehirn und damit dessen Wirkung beeinflussen.
11.2. Sperrfunktion der Blut-Hirn-Schranke¶
Das vom MDR1-Gen codierte P-Glykoprotein ist Bestandteil der Blut-Hirn-Schranke. Es ist einer von vielen in den Endothelzellen der Blutkapillaren des Gehirns exprimierten
Transportern, die den Transfer von Arzneistoffen in das Gehirn kontrollieren. Genvarianten des MDR-1-Gens beeinflussen die Wirksamkeit des P-Glykoproteins.
Bei herabgesetzter Funktion oder Expression von P-Glykoprotein ist die Blut-Hirn-Schranke geschwächt und Arzneistoffe können verstärkt ins Gehirn übertreten, was deren Wirkung erhöhen kann, obwohl der Blutplasmaspiegel unverändert ist.
12. Metabolisierungsenzyme¶
Viele Medikamente werden durch Enzyme abgebaut, vornehmlich in der Leber.
Manche Wirkstoffe entstehen erst durch einen vorhergehenden enzymatischen Umbau von Arzneistoffen.
Werden mehrere Medikamente eingenommen, die über dasselbe Enzym abgebaut werden, konkurrieren diese um das abbauende Enzym, was die Wirkdauer dieser Medikamente verlängert und Nebenwirkungen erhöht.
Daneben gibt es Wirkstoffe, die ein Enzym hemmen (Inhibitoren) oder fördern (Induktoren), was deren Wirksamkeit in Bezug auf den Medikamentenabbau entsprechend beeinflusst.
Metabolisierungsenzyme katalysieren beim Menschen zwei Arten von Biotransformationsreaktionen
- Phase-1-Reaktionen:
- Funktionalisierungsreaktionen
- Oxidation, Reduktion, Hydrolyse und Hydratisierung
- Wirkweise:
- Einführung funktioneller Gruppe(n) (z.B. einer Hydroxylgruppe) in das unpolare Molekül oder
- Freilegung entsprechende funktioneller Gruppen
- Phase-2-Reaktionen
- Konjugationsreaktionen
- Glucuronidierung, Sulfatierung, Methylierung, Acetylierung sowie die Konjugation mit Aminosäuren und Glutathion
- Wirkweise:
- Koppelung funktioneller Gruppen mit sehr polaren, negativ geladenen endogenen Molekülen (z.B. Glucuronsäure)
Wir gehen im Folgenden nur auf diejenigen Enzyme ein, die ADHS-Medikamente betreffen. Dies deckt jedoch bereits die wichtigsten Enzyme ab.
CYP3A4 (Guanfacin) baut 40 bis 50 % aller Medikamente ab.
CYP2D6 (Amphetaminmedikamente, Atomoxetin) baut rund 25 % aller Medikamente ab.
12.1. Metabolisierungskreuzwirkungen¶
12.1.1. Konkurrenz, Inhibition, Induktion, genetische Regulation¶
Die Wirkung von Medikamente kann durch ihre Abbauenzyme auf verschiedene Weise beeinflusst werden:
- Konkurrenz anderer Substrate
Wenn mehrere Wirkstoffe an dasselbe Enzym binden (Substrate) und von diesem abgebaut werden, konkurrieren sie bei gleichzeitiger Gabe um die vorhandene Menge an Abbauenzymen. Dies kann den Abbau verzögern.
-
Inhibition
Arzneimittel können die Wirkung von Enzymen behindern (inhibieren), selbst wenn sie von ganz anderen Enzymen abgebaut werden
- Induktion
Arzneimittel können die Wirkung von Enzymen verstärken (induzieren)
- genetische Regulation
Medikamentenwirkstoffe können Metabolisierungsenzyme auch durch genetische Regulation beeinflussen. Beispielsweise ist Bupropion in vitro ein eher schwacher Inhibitor von CYP2D6. In vivo hemmt Bupropion CYP2D6 dagegen stark, weil es eine genetische Downregulation der CYP2D6-mRNA bewirkt.
12.1.2. Risiko: unbeabsichtige Kreuzwirkungen¶
Die unbeabsichtigte Kombination von zueinander konkurrierenden, inhibierenden oder genetisch regulierenden Medikamenten ist hochriskant. Dadurch kann ein neues Medikament die Wirkung eines bereits eindosierten Medikaments beeinflussen - und umgekehrt, sodass das Risiko von Wirkungsverlust und/oder Überdosierung entsteht.
12.1.3. Nutzen: beabsichtige Kreuzwirkungen¶
Eine bewusste Kombination von zueinander konkurrierenden, inhibierenden oder genetisch regulierenden Medikamenten ist dagegen weniger riskant. So können Medikamente, die gleichzeitig eindosiert werden, bei Beachtung der Interaktionen entsprechend vorsichtig oder nachdrücklich dosiert werden. Ebenso ist eine bewusste Nutzung solcher Kombinationen möglich, um beispielsweise bei Superschnellverstoffwechslern die Wirkung zu verbessern. Ein Betroffener, der eine Dosis Elvanse in 5-6 Stunden verstoffwechselte, berichtete uns, dass eine Kombination mit 150 mg Bupropion die Wirkungsdauer des Elvanse sehr hilfreich verlängerte. Elvanse wird via CYP2D6 verstoffwechselt; Bupropion hemmt CYP2D6 genetisch.
12.2. ADHS-Wirkstoffe und ihre Hauptabbauenzyme¶
ADHS-Wirkstoffe werden von unterschiedlichen Enzymen abgebaut:
Methylphenidat: CES1
Amphetaminmedikamente: CYP2D6 (unklar, ob dies wirklich der Hauptabbauweg ist)
Atomoxetin: CYP2D6
Bupropion: CYP2B6 sowie etwas über CYP2A6
Guanfacin: CYP3A4
Clonidin: unbekannt
Buspiron: CYP3A4
Memantin: unbekannt, wohl nicht durch CYP
Viloxazin: CYP2D6, UGT1A9, UGT2B15, möglicherweise auch durch CYP1A2
Melatonin: CYP1A
Dasotralin: unbekannt
Agomelatin: CYP1A2 (90 %), CYP2C9/2C19 (10 %)
12.3. Pharmakogenetische Diagnostik¶
Durch Genuntersuchungen können die Genvarianten von Metabolisierungsenzymen festgestellt werden.
Geeignete Labore finden sich bei einer Suche nach Labor CES1 (für MPH) oder Labor CYP2D6 (Amphetaminmedikamente, Atomoxetin). Die Laborleistung soll in Deutschland via Krankenkassen abgerechnet werden können, wenn diese von einem Arzt verschrieben wurde.
Eine Labordiagnostik der 22 wichtigsten Metabolisierungs-Gene (einschließlich des für die CYP-Genfamilie wichtigen POR-Gens) kostet Stand September 2023 rund 600 €.
Ein Muster-Diagnosebericht findet sich bei CeGaT, einem Anbieter für genetische Diagnostik in Tübingen. Genanalysen einzelner Metabilisierungs-Gene lagen im September 2023 bei rund 300 €.
12.4. Metabolisierungsenzyme und ihre Genvarianten¶
Siehe hierzu die Beiträge und die betroffenen ADHS-Medikamente:
CES1 Metabolisierungsenzym
CYP2D6 Metabolisierungsenzym
- Amphetaminmedikamente (AMP)
- Atomoxetin
- Bupropion: CYP2B6 sowie etwas über CYP2A6, aber starker CYP2D6 Inhibitor
CYP3A4 Metabolisierungsenzym