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“ADHS behandeln ist einfach. ADHS gut zu behandeln, ist sehr schwierig.”
Die Wahl des individuell am besten wirksamen Medikaments bei ADHS und dessen optimale Eindosierung ist eine Herausforderung. Es gibt zwar etliche Anhaltspunkte für eine Orientierung. Oft genug stellen jedoch die individuellen Besonderheiten jedes einzelnen Betroffenen alle Erfahrungswerte auf die Probe. Da ADHS ein Syndrom ist und es daher “das eine ADHS” nicht gibt, kann die ADHS-Symptomatik aus einer großen Anzahl verschiedener Ursachen entstehe. Folglich gibt es keine einheitliche Behandlung. Erforderlichenfalls muss für einen Betroffenen eine Vielzahl verschiedener Optionen ausprobiert werden.
ADHS-Medikamente können in zwei Kategorien eingeteilt werden: Stimulanzien und Nichtstimulanzien. Stimulanzien wie Methylphenidat (MPH) und Amphetaminmedikamente (AMP) haben den Vorteil, dass sie eine hohe Effektstärke bei geringen Nebenwirkungen haben. Es gibt keine andere Medikamentenklasse in der Psychiatrie mit derart hoher Effektstärke.123 Sie wirken ab dem ersten Tag der Einnahme und können jederzeit ohne Absetzerscheinungen abgesetzt werden. Allerdings können Stimulanzien bei einigen besonders empfindlichen Betroffenen oder bei Überdosierung das emotionale Empfinden beeinträchtigen und sind BtM. Nichtstimulanzien wie Atomoxetin und Guanfacin haben dagegen eine längere Wirkdauer, haben Vorteile in Bezug auf emotionale Dysregulation und keine dämpfende Wirkung auf das emotionale Empfinden.Dafür ist ihre Effektstärke geringer und die Nebenwirkungen sind deutlich höher. Zudem sind sie aufgrund der langen Dauer bis zum Eintreten der Wirkung und der langen Halbwertszeit schwieriger einzudosieren als Stimulanzien.
Weiter müssen spezifische Problemfällen und Komorbiditäten bei der Medikamentenwahl berücksichtigt werden. Zum Beispiel können bei Patienten, die nicht auf verschiedene MPH-Präparate ansprechen, AMP, Atomoxetin oder Guanfacin eingesetzt werden. Falls Stimulanzien trotz Vermeidung einer zu hohen Dosierung eine Beeinträchtigung des emotionalen Empfindens verursachen, können sie durch Atomoxetin oder Guanfacin ersetzt werden oder niedriger dosiert und mit diesen kombiniert werden. Eine Kombinationsmedikation aus Stimulanzien und Atomoxetin kann den Antrieb verbessern und gleichzeitig die emotionale Dysregulation reduzieren. Bestimmte Medikamente haben bei Ticstörungen, Angststörungen, Substanzmissbrauch und andere Komorbiditäten besondere Vorteile.
Die Wirkungsweisen der verschiedenen Medikamente unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Bindungsaffinität an Transporter und ihrer Auswirkungen auf Dopamin und Noradrenalin in verschiedenen Gehirnregionen. Es ist wichtig, die richtige Medikation individuell anzupassen, um die bestmögliche Wirkung bei geringfügigen Nebenwirkungen zu erzielen.
In den USA erhielten medikamentierte Kinder mit ADHS am häufigsten nur Stimulanzien (60 %-67 %), gefolgt von einer Kombination von Stimulanzien und Nicht-Stimulanzien (13 %-15 %), einer Kombination von Stimulanzien und Antidepressiva (6 %-9 %) und schließlich nur Nicht-Stimulanzien (5 %-9 %).4
Bei der Eindosierung ist eine häufig erhöhte Empfindlichkeit von ADHS-Betroffenen auf schon geringe Dosisunterschiede oder auf unterschiedliche Wirkung verschiedener Präparate desselben Wirkstoffs zu berücksichtigen. Dies geht so weit, dass bereits der Austausch eines Generikums gegen ein vermeintlich bioäquivalentes Präparat eines anderen Herstellers erhebliche Unterschiede bis hin zum Verlust der Wirksamkeit bewirken kann. Dies betrifft retardierte wie unretardierte Stimulanzien und ebenso Nichtstimulanzien. Es ist nicht die Regel, aber, wie wir aus dem ADHS-Forum von ADxS.org wissen, weitaus häufiger, als bislang angenommen. Mehr hierzu unter Eindosierung von Medikamenten bei ADHS.
Stimulanzien für ADHS haben eine Sonderstellung in der gesamten psychiatrischen Medikation: keine andere Medikamentenklasse hat eine derart hohe Effektstärke bei zugleich derart niedrigen Nebenwirkungen.1
Es empfiehlt sich, einmal die Beipackzettel von Aspirin oder Antidepressiva und Methylphenidat zu vergleichen
Stimulanzien werden seit vielen Jahrzehnten als ADHS-Medikamente eingesetzt, so lang wie kaum eine andere Medikamentenklasse
Stimulanzien wirken ab dem ersten Tag der Einnahme
Stimulanzien können jederzeit abgesetzt werden, ohne Gefahr von Absetzerscheinungen (im Gegensatz zu Antidepressiva, die z.T. Abhängigkeit und massive Ausdosierungsnebenwirkungen verursachen können)
Nachteile (gemeinsame Nachteile von Stimulanzien
Beeinträchtigung des emotionalen Empfindens bei ca. 20 % der Betroffenen aufgrund der dämpfenden Wirkung von Stimulanzien auf das limbische System
Ursachen: Überempfindlichkeit oder Überdosierung
in diesem Fall Kombinationsmedikation aus Atomoxetin und MPH oder AMP in Betracht ziehen (bei jeweils niedrigerer Dosierung im Vergleich zur Monotherapie)
BtM-Pflichtig, weil theoretische Missbrauchsmöglichkeit
keinerlei Missbrauchsrisiko bei ordnungsgemäßer Einnahme (oral in Medikamentendosis)
an jedem Bahnhof und auf jedem Discoklo gibt es besser “drehende” Sachen für weniger Geld und weniger Aufwand
dennoch möglicher Reiz zur Drogeneinnahme bei Betroffenen mit akuter oder früherer Amphetaminsucht; dann eher Atomoxetin und Guanfacin testen
Stimulanzien verringern die Wahrscheinlichkeit einer Suchtentwicklung,56 erhöhen sie jedenfalls nicht.78
Eine möglichst frühzeitige Behandlung von ADHS mit Stimulanzien verringerte das Risiko einer Suchtentwicklung im Erwachsenenalter. Jedes Jahr, um das Stimulanzienbehandlung später begann, erhöhte sich das Risiko einer Suchtentwicklung im Erwachsenenalter um das 1,46-fache.9
Methylphenidat (MPH)
Vorteile:
besonders gute Antriebssteigerung
unretardiert kurze Wirkdauer (2,5 - 3 Stunden)
Nachteile:
Nonresponderquote ca. 30 %
MPH-Nonresponding nicht deckungsgleich mit AMP-Nonresponding
Amphetaminmedikamente (AMP)
Vorteile
Stimmungsausgleichender als MPH
etwas bessere Effektstärke und etwas niedrigere Nebenwirkungen als MPH, insbesondere bei Erwachsenen
Nachteile:
Nonresponderquote ca. 20 %
AMP-Nonresponding nicht deckungsgleich mit MPH-Nonresponding
Legende:
Quellen, soweit nicht anders angegeben1011 — ungeeignet (—) eingeschränkt geeignet, unter enger Überwachung
o eingeschränkt geeignet
+ besonders geeignet
kein Eintrag: keine Eignungsbeschränkung bekannt
** Unserer Ansicht nach oder noch einzuarbeitende Quellenangaben
Allgemeine körperliche Gegenanzeigen
Allgemeine körperliche Gegenanzeigen
LDX/D-AMP
ATX
MPH
Guanfacin
Bupropion
Kommentare
Überempfindlichkeit gegen den Wirkstoff oder einen der sonstigen Bestandteile
—
—
—
—
—
Glaukom
—
— (Engwinkelglaukom)
—
Hyperthyreose oder Thyreotoxikose
—
—
Phäochromozytom
—
—
Magen nicht sauer genug / zu basisch, pH-Wert über 5,5
—
Tumor im zentralen Nervensystem
—
schwere Leberzirrhose
—
Histaminunverträglichkeit
—
—
—
—
—
Viloxazin scheint das einzige ADHS-Medikament, das Histamin nicht erhöht
Herz-Kreislaufprobleme
Herz-/Kreislaufprobleme:
LDX/D-AMP
ATX
MPH
Guanfacin
Bupropion
Kommentare
Symptomatische Herz-Kreislauf-Erkrankung
—
—
Fortgeschrittene Arteriosklerose
—
Mittelschwere bis schwere Hypertonie
—
—**
+**
Schwerwiegende kardiovaskuläre oder zerebrovaskuläre Erkrankungen, bei denen ein klinisch bedeutsamer Blutdruck- oder Herzfrequenzanstiegs den Zustand verschlechtern könnte, z.B.: schwere Hypertonie, Herzinsuffizienz, arterielle Verschlusskrankheit, Angina pectoris, hämodynamisch relevanter angeborener Herzfehler, Kardiomyopathien, Myokardinfarkt, möglicherweise lebensbedrohliche Arrhythmien, Erkrankungen die durch eine veränderte Funktion von Ionenkanälen verursacht werden
(—)**
—
(—)**
+**
Zerebrovaskuläre Erkrankungen (z.B. zerebrale Aneurysmen, Gefäßabnormalitäten, Vaskulitis oder Schlaganfall)
—
Mittlere bis schwere Hypotonie
geeignet
geeignet
geeignet
o
Effektstärke auf kardiovaskuläre Faktoren (Vergleich pre/post):12
Diastolischer Blutdruck
MPH: statistisch nicht signifikant
AMP: 0,16
verringerter Effekt bei längerer Einnahme
ATX: 0,22
Systolischer Blutdruck
MPH: 0,25
vermutlich höhere Effektstärke durch unretardiertes MPH als durch retardiertes MPH
AMP: 0,09
ATX: 0,16
Herzfrequenz
MPH: statistisch nicht signifikant
AMP: 0,37
ATX: 0,43
12,6 % der Probanden berichteten weitere andere kardiovaskuläre Auswirkungen. 2 % beendeten die Medikation aufgrund kardiovaskulärer Wirkungen.
Bei der Mehrheit der Patienten klangen die kardiovaskulären Auswirkungen spontan oder durch geänderte Medikamentendosis ab oder waren klinisch nicht relevant.
Es gab keine statistisch signifikanten Unterschiede zwischen den medikamentösen Behandlungen in Bezug auf die Schwere der kardiovaskulären Wirkungen.
Anmderkung: Die Metastudie beachtete leider nicht, ob Probanden zeitgleich Koffein zu sich nahmen. Wir vermuten, dass eine Beschränkung auf Probanden, die koffeinfrei medikamentiert wurden, eine drastisch niedrigere Nebenwirkungsrate aufzeigen dürften. Es ist bedauerlich, dass dieser elementare Faktor immer noch nicht mit der erforderliche Konsequenz berücksichtigt wird.
Suchtprobleme
Suchtprobleme:
LDX/D-AMP
ATX
MPH
Guanfacin
Bupropion
Kommentare
Alkoholsucht, akut
o**
o**
o**
o**
o**
Amphetaminsucht, akut
—**
—**
Amphetaminsucht, lange her
(—)**
(—)**
THC-Sucht
o**
o**
einem geplanten Entzug, der mit erhöhter Krampfneigung einhergehen kann
Einnahme von Monoaminooxidase-Hemmern binnen der letzten 14 Tage
—
—
—
—
Einnahme sedierender Arzneimittel
—
Einnahme blutdrucksenkender Arzneimittel
(—)**
(—)**
(—)**
+ (ggf. Dosisanpassung)
Einnahme anderer Bupropion-haltiger Arzneimittel
—
H2-Rezeptorenblocker- oder Antazida
—
Mutterschaft
Mutterschaft
LDX/D-AMP
ATX
MPH
Guanfacin
Bupropion
Kommentare
Frauen im gebärfähigen Alter, die keine Verhütungsmittel verwenden
—
Schwangerschaft
— (insbesondere erstes Trimester)
—
(—)
—
—
Stillzeit
—
—
(—)
—
—
Fahrtüchtigkeit
Fahrtüchtigkeit
LDX/D-AMP
ATX
MPH
Guanfacin
Bupropion
Kommentare
Fahrtüchtigkeit / führen gefährlicher Maschinen
o Patienten vor möglicher Beeinträchtigung durch Müdigkeit und Sehstörungen warnen, bis feststeht, dass beim Betroffenen diese Nebenwirkungen nicht auftreten oder bei Dauereinnahme weggehen
o Patienten vor möglicher Beeinträchtigung durch Müdigkeit, Somnolenz und Schwindelgefühl warnen, bis feststeht, dass beim Betroffenen diese Nebenwirkungen nicht auftreten oder bei Dauereinnahme weggehen
o Patienten vor möglicher Beeinträchtigung durch Müdigkeit, Schwindel, Sehproblemen warnen, bis feststeht, dass beim Betroffenen diese Nebenwirkungen nicht auftreten oder bei Dauereinnahme weggehen
o Moderat bis stark variierender Einfluss auf die Verkehrstüchtigkeit oder die Fähigkeit Maschinen zu bedienen, durch Schwindel und Müdigkeit (vornehmlich bei Einnahmebeginn) sowie Ohnmachtsanfälle
o Fahrtüchtigkeit gegeben, sofern keine schwerwiegenden Nebenwirkungen wie Schwindel auftreten
Einnahme anderer Medikamente
Einnahme anderer Medikamente mit Wirkung auf:
LDX/D-AMP
ATX
MPH
Guanfacin
Bupropion
Kommentare
CYP3A4/5
—
OCT-1
—
MATE1
—
Arzneimittel, die QT-Intervall verlängern können
—
—
CES1
—
CYP2D6
—
—
—
Legende:
Quellen, soweit nicht anders angegeben1011 — ungeeignet (—) eingeschränkt geeignet, unter enger Überwachung
o eingeschränkt geeignet
+ besonders geeignet
kein Eintrag: keine Eignungsbeschränkung bekannt
** Unserer Ansicht nach oder noch einzuarbeitende Quellenangaben.
Alle Angaben ohne Gewähr. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt.
2. Medikamentenwahl ohne spezifische Problemfälle¶
Von den Betroffenen, denen eine Medikamentierung helfen würde, erhalten lediglich rund 20 bis 25 % Medikamente. Von Nichtbetroffenen erhalten weniger als 1 % Medikamente, die sie nicht benötigen.16
Vor einer Behandlung mit Stimulanzien empfiehlt sich
eine kardiovaskuläre Untersuchung.17 zur Suche nach kardiovaskulären Anomalien wie:18
erhöhtem Blutdruck
Herzgeräusche
Synkopen bei körperlicher Anstrengung
EKG ist fakultativ
Kontraindikationen bei Stimulanzien (die meisten davon ungewöhnlich in der Kindheit):18
Die nachfolgenden Nennungen richten sich alleine nach unserer Auffassung aus wissenschaftlicher Sicht. Zulassungseinschränkungen sind nicht berücksichtigt.
2.1.1. Mittel der Wahl bei Kindern und Jugendlichen¶
Bei Erwachsenen ist die aus wissenschaftlicher Sicht hilfreichste* Priorisierung der Medikamente:
* Kassenzulassungen können hiervon abweichen
Dritte Wahl ist Atomoxetin. Bei komorbidem SCT oder starkem ADHS-I kann es erste Wahl sein.
Bei Kindern mit ADHS wechselten 8,4 % von einer MPH-Erstmedikation zu Atomoxetin, 31,3 % von einer ATX-Erstmedikation zu MPH22
Etwa 40 %23 bis 50 % der MPH-Nonresponder sprechen auf Atomoxetin an, und etwa 75 % der MPH-Responder sprechen auch auf Atomoxetin an. Atomoxetin kann während der Umstellungsphase zusammen mit MPH verabreicht werden, ohne dass übermäßige Bedenken hinsichtlich unerwünschter Ereignisse, wie z. B. kardiovaskulärer Wirkungen, bestehen (obwohl eine Überwachung von Blutdruck und Herzfrequenz erforderlich ist).24
Vierte Wahl ist unserer Auffassung nach Guanfacin (insbesondere bei generischem oder durch MPH oder AMP verursachtem Bluthochdruck oder bei komorbiden Tics), das statistisch betrachtet eine deutlich bessere Effektstärke bei geringeren Nebenwirkungen hat als Atomoxetin
Weitere mögliche Medikamente siehe Beiträge hierzu
Bei Erwachsenen ist die aus wissenschaftlicher Sicht hilfreichste* Priorisierung der Medikamente:2021
* Kassenzulassungen können hiervon abweichen
Erste Wahl sind Amphetaminmedikamente
Seit März 2024 ist Elvanse bei Erwachsenen laut Fachinformation Takeda auch als Erstbehandlungsmittel indiziert, bei Kindern dagegen weiterhin erst, wenn MPH unzureichend wirkte.25
Zweite Wahl ist Methylphenidat
Dritte Wahl ist Atomoxetin. Bei SCT oder starkem ADHS-I kann es erste Wahl sein.
Vierte Wahl ist unserer Auffassung nach Guanfacin, da die positiven Wirkungsberichte von Guanfacin vornehmlich Kinder betreffen
Guanfacin ist bei Erwachsenen off-label
im hohen Alter Vorsicht wegen erhöhter Sturzgefahr bei schneller Blutdrucksenkung
Weitere mögliche Medikamente siehe Beiträge hierzu
Bei der Wahl des Wirkstoffs sollte weiter berücksichtigt werden:
Komorbiditäten
Metabolisierungsenzym-Genvarianten, die den Abbau beschleunigen oder verlangsamen
weitere eingenommene Medikamente
Magensäure
mögliche prämenstruelle Verschlechterung der ADHS-Symptome
betroffene Frauen sollten vorrangig Stimulanzien verwenden, da diese in den betreffenden Tagen auch kurzfristig höher dosiert werden können. Siehe hierzu unten unter Nebenwirkungen bei der Eindosierung.
2.3. Trial and Error: Finden des passenden Wirkstoffs braucht Geduld¶
Psychiatrische Störungen und andere Erkrankungen des ZNS stellen besondere Herausforderungen dar, um ein passendes Medikament zu finden. ADHS hat dabei innerhalb der psychiatrischen Störungen noch eine Sonderstellung2, da die Responderquoten mit 70 % (MPH) bis 80 % (AMP) weitaus höher sind als bei anderen Störungsbildern. Ebenso ist die Effektstärke von ADHS-Medikamenten im Vergleich zu anderen Störungsbildern enorm hoch.
Dennoch ist nicht vorhersagbar, welcher Wirkstoff bei einem bestimmten ADHS-Betroffenen wirkt. Selbst innerhalb einer Wirkstoffklasse (MPH) kann beim einen Betroffenen das eine Präparat untragbare Nebenwirkungen haben, während das andere hervorragend funktioniert - während der nächste Betroffene auf die beiden Präparate genau umgekehrt reagiert. Die unterschiedlichen Reaktionen beruhen vermutlich auf den verschiedenen Anflutungs- und Abbauprofilen des Wirkstoffs, die sich bei den einzelnen Präparaten erheblich unterscheiden können.
Deshalb ist auch bei ADHS eine geduldige und kleinstufige Medikamentenanpassung der entscheidende Faktor für die Verbesserung von Symptomatik und Lebensqualität. Wir möchten alle Betroffenen ermutigen, bei nicht zufriedenstellenden Ergebnissen “dran” zu bleiben, und zusammen mit Ihrem Arzt immer neue Präparate und Wirkstoffe auszuprobieren.
“In kontrollierten Studien wird das Medikament ausgewählt, bevor die Probanden rekrutiert werden, und die Dosierung wird durch ein Protokoll festgelegt. In der klinischen Praxis wird die Dosierung durch das individuelle Ansprechen der Probanden bestimmt. Tatsächlich gibt es keinen identifizierten Parameter, der das Molekül, die Dosis, den Zeitpunkt der Einnahme und die Häufigkeit der Einnahme vorhersagt, bei der eine einzelne Person einen optimalen Nutzen aus der Medikation ziehen wird. … In der klinischen Praxis werden die Medikamente der Stimulanzienklasse auf mindestens fünf Arten an die Bedürfnisse und Reaktionen des einzelnen Patienten angepasst: Wirkstoff, Verabreichungssystem, Dosis, Dauer und Häufigkeit.”27
3. Medikamentenwahl nach spezifischen Problemfällen¶
Das ADHS-Symptom der mangelnden Inhibition der exekutiven Funktionen wird dopaminerg durch die Basalganglien (Striatum, Putamen) verursacht.29 Eine mangelnde Inhibition der Emotionsregulierung wird noradrenerg durch den Hippocampus verursacht.29
Daher dürfte ersteres einer dopaminergen Behandlung besser zugänglich sein, während Emotionsregulierung und Affektkontrolle besser noradrenerg zu behandeln sein dürften.
Impulsivität wird zudem serotonerg vermittelt
Ist starke Impulsivität ein herausragendes Symptom des Betroffenen, wäre es fahrlässig, Stimulanzien unbesehen so hoch zu dosieren, dass dieses adäquat beseitigt wird, da damit hinsichtlich der übrigen Symptome überdosiert würde. Bei hervorstechend hoher Impulsivität kann für diese eine Behandlung mit niedrig dosierten SSRI hilfreich sein.
Serotoninwiederaufnahmehemmer
deutlich geringer dosiert als bei Verwendung als Antidepressiva
Emotionale Dysregulation bei ADHS kann mit Stimulanzien oder Atomoxetin behandelt werden.31
Unserer Erfahrung nach sind Atomoxetin und Guanfacin bei der Behandlung emotionaler Dysregulation gegenüber Stimulanzien im Vorteil. Atomoxetin und Guanfacin wirken über den ganzen Tag. Gerade das sozial sehr beeinträchtigende Symptom der Rejection Sensitivity, die vor allem ´soziale Beziehungen und Partnerschaften sehr belasten kann, was vor allem außerhalb der Wirkzeit von Stimulanzien zum Tragen kommt, kann durch ganztägig wirkende Nichtstimulanzien deutlich verbessert werden.
Dafür haben diese Medikamente die Nachteile einer schwierigeren Eindosierung (Pegelmedikamente), die Wochen dauern kann sowie eine deutlich niedrigere Effektstärke auf die übrigen ADHS-Symptome bei zugleich höheren Nebenwirkungen. Insbesondere die durch Stimulanzien erreichbare Steuerung des Antriebs und der Motivation ist durch Nichtstimulanzien nicht erzielbar. Daher empfiehlt sich hier eine Kombination von (jeweils niedriger dosierten) Nichtstimulanzien und Stimulanzien. Bei Betroffenen, die zu einer fein abgestuften Dosierung in der Lage sind, wird dies häufig der optimale Weg sein.
Viele ADHS-Betroffene berichteten, dass Stimulanzien erheblichen und unmittelbaren Einfluss auf ihre Rejection Sensitivity habe. Dabei berichteten 90 % von einem positiven und RS verringernden, 10 % von einem eher erhöhenden Einfluss durch MPH.
Ein ADHS-Betroffener berichtete, dass seine langjährig bestehende intensive Rejection Sensitivity seit der Behandlung mit MPH signifikant zurückgegangen ist. Er berichtete weiter, dass er mehrfach Rückfälle von Rejection Sensitivity feststellen konnte, wenn geeignete Auslöser vorhanden waren und er zugleich die MPH-Medikation auch nur für wenige Stunden vergessen hatte. Die Intensität der RS, die ein abendlicher Streit mit der Freundin (außerhalb der tagsüber bestehenden MPH-Medikation) auslöst, wurde innerhalb von 10 Minuten nach der Einnahme von MPH drastisch verringert.
Methylphenidat verringert bei ADHS-Betroffenen das Gefühl von Misstrauen signifikant.32
Bei einer Rejection Sensitivity sei eine Kombination der Alpha-2-Adrenorezeptor-Agonisten Guanfacin und Clonidin laut einem einzelnen Erfahrungsbericht eines amerikanischen Arztes (Dodson) besonders wirksam. Dieser berichtet, dass bei einer Dosierung von zwischen 0,5 und 7 mg Guanfacin und zwischen 0,1 mg bis 0,5 mg Clonidin jeder dritte Betroffene seine Rejection Sensitivity Symptome verliert. Er berichtet weiter, dass der Einfluss auf die Lebensqualität durch diese Behandlung im Ergebnis größer sei als die Behandlung durch Stimulanzien.33
Dodson berichtet weiter von einer Studie der Harvard-Universität, dass eine Anhebung der Dosierung für Guanfacin bis auf 4 mg und für Clonidin bis auf 7-8 mg ein um 40 % höheres Ansprechen bewirke, wobei diese Dosierung jedoch über den empfohlenen Limits liege. Hierbei ergeben sich zudem erhöhte Nebenwirkungen.
Guanfacin ist als ADHS-Medikament im Vergleich zu Atomoxetin wirksamer.
Alpha-2-Adrenorezeptoren (Adrenozeptoren) werden von den Neurotransmittern Adrenalin und Noradrenalin aktiviert. Sie sind damit für die Wirkungen verantwortlich, die durch Adrenalin und Noradrenalin vermittelt werden.34 Agonisten verstärken die Wirkung der Rezeptoren. Guanfacin und Clonidin wirken damit im Ergebnis noradrenerg und verringern die adrenerge Wirkung.
Dodson33 beschreibt weiter Erfolge mit MAO-A Wiederaufnahmehemmern, insbesondere mit Parnate (tranylcypromine), was die bisher übliche Behandlung bei Rejection Sensitivity gewesen sei. MAO-A Wiederaufnahmehemmer seien auch in Bezug auf ADHS Symptome erfolgreich eingesetzt worden.
Imipramin und Phenelzin sollen je nach Art der weiteren Symptomlage jeweils besser geeignet sein (als Valproat), Rejection Sensitivity zu bekämpfen.35.
Imipramin ist bei ADHS ein denkbares Ergänzungsmedikament zu Stimulanzien. Es sollte jedoch die gegenseitige Wirkungsverstärkung von Imipramin und Methylphenidat beachtet werden.
Valproat (250 mg bis 500 mg) verbesserte bei 50 % von Borderline-Betroffenen moderat die Symptome der Reizbarkeit, Wut, Angst, Rejection Sensitivity und Impulsivität. Die Ergebnisse variierten von Betroffenem zu Betroffenem sehr.36
3.3. Vermeidung spezifischer Nebenwirkungen von ADHS-Medikamenten¶
3.4.1.1. Angststörungen allgemein komorbid zu ADHS¶
Stimulanzien
Manche Ärzte haben Vorbehalte gegen eine Stimulanzienbehandlung bei Kindern mit ADHS und komorbider Angststörung, da „Angstzustände und Nervosität“ von großen Arzneimittel-Informationsdatenbanken wie Micromedex, Lexicomp und UptoDate als häufige Nebenwirkung genannt werden.37
Die meisten ADHS-Betroffenen profitieren jedoch von einer Stimulanzienbehandlung auch in Bezug auf komorbide Angstsymptome.37
Eine Meta-Analyse von k = 23 Studien an n = 2.959 Kindern mit ADHS fand eine signifikante Verringerung der Angstsymptome bei Stimulanzieneinnahme im Vergleich zu Placebo.38
Unretardierte Methylphenidat-Derivate verringerten Angstzustände stärker als Placebo, retardiertes MPH und Amphetamin-Derivate beeinflussten das Risiko nicht.
Bei einer Minderheit von ADHS-Betroffenen können Stimulanzien Angstzustände verschlimmern, wobei dies häufiger bei Amphetaminmedikamenten als bei Methylphenidat auftritt. Hohe Dosierungen, insbesondere oberhalb der empfohlenen Tageshöchstdosen, erhöhen das Risiko. 38
Stimulanzien können daher bei Kindern mit ADHS und komorbider Angststörung verwendet werden. Selbst bei Auftreten von Angstzustände ist ein Absetzen der Stimulanzien nur selten erforderlich.37
Eine Analyse der durch Elvanse adressierten Proteine zeigte Hinweise, dass Elvanse auch bei der Behandlung von Angstzuständen positiv mitwirken könnte.39
Nichtstimulanzien
Atomoxetin kann helfen, komorbide Angstsymptome bei Kindern und Jugendlichen zu verringern.40414243
Es wurde von positiven Effekten von Atomoxetin auf komorbide Angststörungen berichtet.44 Atomoxetin soll dabei in Bezug auf Angst eine Effektstärke von 0,5 aufweisen.23
Die Verbesserung der Angstsymptomatik durch Atomoxetin war etwas größer als die durch MPH.45
Kombinationsmedikation
Eine Studie untersuchte die Kombinationsbehandlung von Atomoxetin mit SNRI und SSRI bei Erwachsenen mit ADHS und komorbider generalisierter Angststörung. Bei allen Probanden versagten SNRI oder SRI allein in Bezug auf die Verbesserung der Angstsymptome. Eine Kombinationsbehandlung von SNRI oder SSRI mit Atomoxetin zeigte deutliche Verbesserungen der Angstsymptomatik gegenüber der vorhergehenden Monotherapie mit SNRI/SSRI.46
Vorteilhafte Erfahrungen bei ADHS und leichter bis mittlerer komorbider Angststörung wurden berichtet von:
Stimulanzien plus Venlafaxin 18,75 bis 150 mg / Tag47
Ein Einzelfallbericht notierte bei einer 15-jährigen ADHS-Betroffenen, die auf Atomoxetin nicht ansprach, auf MPH mit Dysphorie reagierte und augmentierendes Clonidin nicht vertrug, langfristig eine gute Wirkung einer Kombinationsmedikation von Vortioxetin (10 mg / Tag) und MPH auf die stimulanzbedingte Angst und die ADHS-Symptomatik. Diese wurde mit hoher Verträglichkeit erreicht.48
3.4.2.1. Stimulanzien-Monotherapie als erster Schritt bei komorbider Depression und ADHS¶
Bei ADHS mit milder komorbider Depression sollte zunächst eine Monotherapie mit Stimulanzien vorgenommen werden. Stimulanzien wirken sehr viel schneller und haben vor allem keinerlei Absetznebenwirkungen, die bei Antidepressiva massiv sein können. In Anbetracht der schnellen Wirksamkeit von Stimulanzien kann dann beobachtet werden, ob durch die Beseitigung der ADHS-Problematik der die Depression treibende Stressor entfällt. Dies ist recht häufig der Fall.
Bei rund einem Drittel aller behandlungsresistenten Depressionen findet sich ein zuvor nicht diagnostiziertes ADHS.
Bei ADHS-Betroffenen mit komorbider Depression fand sich während der Zeit einer ADHS-Medikation ein um 20 % niedrigeres Depressions-Risiko als in der unmedikamentierten Zeit. Das 3-Jahres-Langzeitrisiko einer Depression verringerte sich um 43 %.49
Eine Analyse der durch Elvanse adressierten Proteine zeigte Hinweise, dass Elvanse auch bei der Behandlung von Depression positiv mitwirken könnte.39
Unsere Erfahrung ist, dass Elvanse im Rahmen einer ADHS-Behandlung größere Verbesserung depressiver Symptome zeigt als Methylphenidat.
Ob Atomoxetin bei Depression wirksam ist, ist umstritten. Während die Mehrheit der Stimmen dies verneint185051 fand eine Studie eine Verbesserung der Depressionssymptome durch Atomoxetin, die der von Paroxetin und Venlaflaxin entsprach.52
3.4.2.3. Kombinationsmedikation bei komorbider Depression und ADHS¶
Eine doppelblinde placebokontrollierte Studie untersuchte die Kombinationsbehandlung mit Atomoxetin und Fluoxetin (einem SSRI) im Vergleich zur Monotherapie mit Atomoxetin bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS und komorbiden Symptomen von Depression oder Angst. Die Studie fand keine relevanten Verbesserungen der ADHS-Symptomatik bei der Kombinationsbehandlung. Es fanden sich kleine Verbesserungen im Bereich der Symptomatik komorbider Depression durch Kombinationstherapie im Vergleich zur Monotherapie mit Atomoxetin, wobei letztere neben den ADHS Symptomen bereits die Depressions- und Angstsymptome verbesserte. Die Kombinationsbehandlung zeigte keine erhöhten Nebenwirkungen. Der Blutdruck bei der Kombinationstherapie war etwas stärker erhöht als bei der Monotherapie.43
Eine Studie fand Hinweise auf eine Wirkung von Atomoxetin zusammen mit Sertralin beim HTTLPR- (SERT) Genotyp s/s im Vergleich zu einer Sertralin-Monotherapie.53
3.4.2.3.3. SSRI und MPH bei komorbider Depression zu ADHS¶
Eine Studie problematisiert, dass SSRI (wie z.B. Fluoxetin) eine mäßige suchtbedingte Genregulation von MPH im Striatum von Ratten verstärken, und damit eine Abhängigkeit von Methylphenidat verstärken könnten. Bei Vilazodon sei dies schwächer ausgeprägt.54
3.4.2.3.4. Escitalopram und MPH bei komorbider Depression zu ADHS¶
Eine Studie fand kein erhöhtes Risiko einer augmentierten Gabe von Escitalopram zu MPH bei ADHS, mit Ausnahme bei zusätzlicher komorbider TIC-Störungen.55
3.4.2.3.5. Fluoxetin und MPH bei komorbider Depression und ADHS¶
Positive Erfahrungen wurden berichtet von Stimulanzien plus Fluoxetin 10 bis 20 mg / Tag bei komorbider leichter bis mittelschwerer Depression47
Eine Studie an ADHS-Betroffenen mit komorbider Depression, die durch MPH allein keine ausreichende Verbesserung der ADHS-Symptome zeigten, fand durch augmentierend gegebenes Fluoxetin bei fast allen Probanden deutliche Verbesserungen der ADHS-Symptomatik. Bei 40 % der Probanden genügte dazu bereits eine zusätzliche Gabe von unter 20 mg Fluoxetin. Erhöhte Nebenwirkungen zeigten sich nicht.56 Eine weitere Studie fand für Fluoxetin keine erhöhten Nebenwirkungen bei einer MPH-Medikation bei ADHS und eine deutlich geringeres Risiko im Vergleich zu Escitalopram bei komorbiden TIC-Störungen.55
Eine kombinierte Gabe von MPH und Fluoxetin verringerte bei Ratten Angstzustände und depressionsähnlichen Verhaltensweisen deutlich stärker als eines der beiden Medikamente allein.57
Fluoxetin soll das einzige SSRI mit einer antriebssteigernden Wirkung sein. Als Monotherapie scheint es zur Behandlung von ADHS nicht geeignet. ⇒ Fluoxetin bei ADHS
Eine gemeinsame Gabe von MPH und Fluoxetin an jugendliche Ratten bewirkte eine erhöhte Sensitivität auf Belohnungsreize (was bei ADHS positiv sein dürfte) und eine erhöhte Ängstlichkeit und Stressempfindlichkeit (was bei ADHS nachteilig wäre) bei erwachsenen Tieren.58 Es wurden jedoch gesunde Tiere und keine ADHS-Modelltiere getestet.
3.4.2.3.6. Selegilin und Lisdexamfetamin bei komorbider Depression¶
Eine Studie berichtet von einer erfolgreichen Komedikation von Selegilin und Lisdexamfetamin (Elvanse) bei ADHS und komorbider Depression.59 Eine weitere Studie zur Komedikation von Stimulanzien und MAO-Hemmern bei Depression fand keine dabei entstehenden Probleme.60
Somit kann auch eine Kombinationsmedikation von Selegilin mit Stimulanzien bei ADHS in Betracht gezogen werden.
3.4.2.3.7. Duloxetin und Stimulanzien bei komorbider Depression¶
Positive Erfahrungen wurden berichtet von Stimulanzien plus Duloxetin 30 mg / Tag bei leichter bis mittelschwerer Depression47
3.4.2.3.8. Venlaflaxin und Stimulanzien bei komorbider Depression¶
Positive Erfahrungen wurden berichtet von Stimulanzien plus Venlafaxin 18,75 bis 150mg / Tag bei leichter bis mittelschwerer Depression47
Wir kennen viele Berichte von massiven Absetzerscheinungen bei Venlaflaxin. Das Absetzen gelang zuweilen gar nicht oder dauerte ein halbes Jahr, bei zugleich massiven Nebenwirkungen. Vor diesem Hintergrund sollte Venlaflaxin als eines der letzten letztes Antidepressivum in Betracht gezogen werden.
3.4.2.3.9. MAO-Hemmer und Stimulanzien bei komorbider Depression¶
Eine Studie zur Komedikation von Stimulanzien und MAO-Hemmern bei Depression fand keine dabei entstehenden Probleme,60 entgegen der häufig angenommenen Problematik von Blutdruckkrisen.
3.4.2.3.10. Komorbide Depressionen mit speziellen Ausprägungen¶
3.4.2.3.10.1. Komorbide Depression mit Konzentrations- und Antriebsstörungen¶
Bei komorbider Depression mit Konzentrations- und Antriebsstörungen soll erfahrungsgemäß hilfreich sein:
MPH zusammen mit einem Stimmungsstabilisator erhöht das Risiko eines manischen Wechsels oder psychotischer Symptome nicht. Sind Stimulanzien unwirksam oder werden diese schlecht vertragen, scheint Atomoxetin eine Option zu sein.41
Stimulanzien können bei Kindern und Jugendlichen komorbider mit bipolarer Störung sicher eingesetzt werden, wenn die manischen/hypomanischen Symptome wirksam mit einem Stimmungsstabilisator behandelt werden.37
Eine Metaanalyse von k = 5 Studien mit n = 1.653 Datensätzen fand für Stimulanzien Bipolar im Vergleich zu Placebo keinen Anstieg der Werte auf der Young Mania Rating Scale bei Patienten, die sich in einem euthymen oder depressiven Zustand befanden (SMD -0,17). Die Studienergebnisse waren in hohem Maße heterogen und eine qualitative Synthese der Studien zeigte ein begrenztes Risiko für medikamenteninduzierte manische Symptome.62
Bei Bipolarer Störung und starken Affektschwankungen soll hilfreich sein:
Bei komorbider bipolarer Störung mit gereizter Depression wurden gute Erfahrungen berichtet von
- Aripiprazol 5 bis 15 mg Tag47
- Lamotrigin (wichtig: langsam aufzudosieren)47
Eine Analyse der durch Elvanse adressierten Proteine zeigte Hinweise, dass Elvanse auch bei der Behandlung von bipolarer Störung positiv mitwirken könnte.39
Eine vergleichende Wirksamkeitsstudie an N = 22.601 Betroffenen von Emotional-Instabiler Persönlichkeitsstörung mit komorbidem ADHS zeigte, dass ADHS-Medikamente die einzige Medikamentengruppe waren, die das Suizidalitätsrisiko signifikant verringerten.63
Valproat (250 mg bis 500 mg) verbesserte bei 50 % von Borderline-Betroffenen moderat die Symptome der Reizbarkeit, Wut, Angst, Rejection Sensitivity und Impulsivität. Die Ergebnisse variierten von Betroffenem zu Betroffenem sehr.36
3.4.6. Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD) komorbid zu ADHS¶
DMDD ist durch eine dauerhafte starke Reizbarkeit und hohe Impulsivität gekennzeichnet. ADHS tritt häufig komorbid auf.
Eine Studie fand eine positive Wirkung einer Kombinationstherapie von Aripiprazol und Methylphenidat Kindern mit komorbider DMDD und ADHS. Erhöhte Nebenwirkungen fanden sich nicht.64
Mehrere atypische Antipsychotika, insbesondere Risperidon, verbesserten Aggressionen wirksam. Einige Studien zeigten (entgegen der Warnung der FDA, wonach Stimulanzien Aggressionen verschlimmern könnten), dass Stimulanzien ebenso wie Antipsychotika Aggressionen, speziell bei hyperaktiven Kindern, wirksam verbesserten.65
Stimulanzien, die das ADHS verbessern, verbessern häufig auch Aggression und störendes Verhalten aus komorbider oppositioneller Trotzstörung, Verhaltensstörung, Störung der Stimmungsregulation oder ASS.37 In einer Studie mit schneller Titration von MPH an n = 155 Jungen von 6 bis 12 Jahren mit ADHS und komorbider CD zeigten 2/3 der Probanden eine Remission der Aggressionssymptome (R-MOAS-Score <18) nach durchschnittlich 75 Tagen Stimulanzienbehandlung.
Eine Kombinationsbehandlung mit (niedrig dosierten) Antipsychotika und Psychostimulanzien kann insbesondere bei komorbider Aggressivität hilfreich sein, wenn eine Monotherapie mit Stimulanzien und eine Kombination von Stimulanzien mit verhaltenstherapeutischen Interventionen zur Behandlung von Aggressionen nicht ausreichend waren.66 Verschiedene Expertengremien kamen zu dem Ergebnis, dass wenn komorbid zum ADHS bestehende Aggression (nicht: aus Stimulanzien folgende Aggression) durch die Verschreibung von Stimulanzien nicht ausreichend verbessert werden, die gleichzeitige Einnahme von atypischen Antipsychotika angezeigt ist, bei vorsichtiger Eindosierung.6768
Zur Komedikation von Antipsychotika und Psychostimulanzien siehe auch oben unter Gewichtsverlust.
Bipolare Störungen, intermittierende explosive Störungen und früh einsetzende Psychosen ohne komorbides ADHS zeigen auf Stimulanzien häufiger eine behandlungsbedingten Manie, Psychose oder ihr explosives Verhaltens kann aggressiver werden. Stimulanzien sind daher nur bei bestehendem ADHS hilfreich, um Aggressionen zu verringern.37
3.4.8. Oppositionelles Trotzverhalten komorbid zu ADHS¶
Eine Metaanalyse von k = 28 Studien fand, dass Stimulanzien auf aggressive Verhaltensweisen bei ADHS ähnlich gute Verbesserungen zeigten wie auf die ADHS-Kernsymptome selbst. Bei aggressiven Verhaltensweisen ohne komorbides ADHS war die Wirkung von Stimulanzien etwas schlechter.69 Dabei war MPH7071 ebenso hilfreich wie AMP23.
Bei komorbidem oppositionellem Trotzverhalten soll Atomoxetin hilfreich sein.4172 Eine Studie fand jedoch nur eine Effektstärke von 0,39 auf Oppositionelles Trotzverhalten, wobei höhere Dosen hilfreicher waren als bei ADHS ohne Komorbidität73, zwei Studien fanden keine Wirksamkeit.7423
Bei komorbidem ODD und ADHS erwies sich eine Kombinationsbehandlung mit Risperidon und MPH als hilfreich75, ebenso bei komorbider Verhaltensstörung (CD).76
Effektstärke verschiedener Medikamente auf ODD im Vergleich zu Placebo:77
0,85 Stimulanzien (k = 6, n = 545)
0,43 Guanfacin (k = 2, n = 678)
0,33 Atomoxetin (k = 15, n = 1.907)
0,27 Clonidin (k = 3, n = 283)
3.4.9. Verhaltensstörung / Conduct disorder (CD) komorbid zu ADHS¶
Bei komorbider Conduct disorder soll Atomoxetin hilfreich sein.4178
Verhaltensstörung (Conduct disorder) wird daneben häufig behandelt mit:78
Antipsychotika
Antidepressiva wie Imipramin, Desipramin, SSRI
Lithium
Eine Studie fand bei Kindern und Jugendlichen, die in den Jahren 2005 bis 2013 eine Medikation mit Methylphenidat begannen, 67.595 Kinder, die eine Kombinationstherapie von MPH und Antipsychotika erhielten. Darunter war eine Kombination mit
Risperidon (72 %)
Pipamperon (15 %)
Tiaprid (8 %)
Ein Viertel der Nutzer einer Kombinationstherapie von MPH und Antipsychotika bekam diese nur einmalig verschrieben.
Die Anwendung der Kombinationen von MPH mit Risperidon und Tiaprid war häufig geeignet (> 72 %), die Anwendung der Kombination MPH-Pipamperon dagegen nur selten geeignet (< 15 %).79
Medikation bei Autismus-Spektrums-Störung und komorbidem ADHS:
Es wird häufig von einer erhöhten Empfindlichkeit auf Medikamente allgemein, auch in Bezug auf ADHS-Medikamente, bzw. einem verringerten Dosisbedarf berichtet. Teils sind die benötigten Dosen extrem gering.37
MPH:
schlechtere Wirkung auf Hyperaktivität bei intellektueller Beeinträchtigung80
schlechtere Wirkung und schlechteres Nebenwirkungsniveau als bei ADHS ohne ASS81
MPH unter sorgfältiger Überwachung niedrig eindosieren (z.B. 0,3 mg/kg/Tag) mit niedrigen Zieldosen (z. B. 0,5 mg/kg/Tag)82
Empfindlichere Nebenwirkungsreaktionen auf Stimulanzien möglich, insbesondere Appetitlosigkeit und Schlaflosigkeit82
Elvanse
Mittel zweiter Wahl, falls MPH nicht wirkt oder unangemessene Nebenwirkungen zeigt. Auch hier niedrig eindosieren und mit niedrigerer Zieldosis rechnen82
Atomoxetin:
schlechtere Wirkung auf ADHS-Symptome bei gleichem Verträglichkeitsniveau8081
Guanfacin:
gleiche Wirkung auf Hyperaktivität bei intellektueller Beeinträchtigung, bei schlechterer Verträglichkeit80
gleiche Wirkung auf Hyperaktivität bei ASD wie bei TD81
Amitriptylin:
in einer Dosierung von etwa 1 mg/kg/Tag bei vorsichtiger Anwendung Wirksamkeit bei81
Schlaf, Angst, Impulsivität und ADHS, repetitivem Verhalten und Enuresis
Aripiprazol (off label) 2,5 mg (Startdosis) bis 10 mg61
Reine ASS-Medikation:
In den USA sind nur Risperidon und Aripiprazol von der FDA zur ASS-Behandlung zugelassen81
Risperidon
Hyperaktivität/Impulsivität bei Autismus oder mentaler Retardierung kann durch Stimulanzien wie durch Risperidon verbessert werden. Risperidon ist nicht allgemein für die Behandlung von ADHS zugelassen, könnte jedoch bei komorbidem Autismus in Betracht gezogen werden. Aufgrund des Potenzials für verstärkte Nebenwirkungen ist eine vorsichtige Dosierung für diese Symptomkombinationen erforderlich.18
Citalopram und Fluoxetin (SSRI):
schlechte Verträglichkeit und mangelnde Wirksamkeit bei repetitiven Verhaltensweisen81
Tourette hat eine geschätzte Prävalenz von 0,52 % und tritt bei Jungen viermal häufiger auf als bei Mädchen. Jeder zweite Jugendliche mit Tourette leidet unter ADHS.83
Bei bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS und Tic-Störungen oder Tourette können Stimulanzien eine wirksame Behandlung darstellen. In der Regel werden Tics oder Tourette dadurch nicht verschlimmert, auch wenn es Einzelfälle gibt, bei denen dies anders ist.8437
Da Dextroamphetamin in hohen Dosen Tics bei manchen Kindern (zunächst) verschlimmern kann, sollte Methylphenidat bevorzugt werden.37 Wie immer empfiehlt sich eine langsame und kleinstufige Eindosierung, auch wenn diese mehr Geduld benötigt.
Laut einer Cochrane-Review sind MPH wie Dextroamphetamin für ADHS-betroffene Kinder und Jugendliche mit Tics wirksam. MPH verbesserte auch die Tics. Dosissteigerungen wurden jedoch aus Sorge vor einem erhöhten Tic-Risiko eingeschränkt.84 Krause berichten, dass sich bei einer Monotherapie mit Stimulanzien komorbide Tics zunächst verschlechtern können. Dies gebe sich jedoch meist binnen ca. 4 Wochen. Zudem könne eine langsame Aufdosierung und eine niedrige Dosierung hilfreich sein.14 Bei starkem ADHS und einer Historie einer Tic-Verschlechterung durch Stimulanzien ist es möglich, dass das Stimulans die Tics bei der erneuten Verabreichung nicht verschlimmert.85
Früher wurden für Jugendlichen mit Tourette oder chronischen Tic-Störungen von Stimulanzien abgeraten,86da in Fallberichten aus den 1970er Jahren bei Kindern, die wegen ADHS mit einem Stimulans behandelt wurden, Tics berichtet worden waren (insbesondere von motorischen Tics, z.B. Augenblinzeln, Knirschen mit der Nase, Lecken mit den Lippen).86
Eine Metaanalyse von k = 22 Studien mit n = 2.385 Kinder mit ADHS fand jedoch bei Jugendlichen ohne vorbestehende Tic-Störungen keine Verursachung von Tics durch Stimulanzien im Vergleich zu Placebo.85
Für folgende weitere Medikamente wurden positive Wirkungen auf Tics/Tourette beschrieben:
Eine Studie fand eine gute Verbesserung der ADHS-Symptomatik durch Selegilin bei Kindern mit ADHS und komorbider Ticstörung über einen Testzeitraum von mehr als 6 Monaten. Nur 2 der 29 Probanden berichteten eine Verschlimmerung der Tics. Die Nebenwirkungen waren gering.89
Eine andere Studie an 24 Kindern mit ADHS und komorbidem Tourette fand nur geringe Verbesserungen der ADHS-Symptomatik bei zugleich hoher Abbruchquote der Teilnehmer.90
Clonidin
wirkte bei Kindern mit ADHS und komorbiden Ticstörungen besser als Methylphenidat mit Halperidol.91
Eine Analyse der durch Elvanse adressierten Proteine zeigte Hinweise, dass Elvanse auch bei der Behandlung von Tic-Störungen positiv mitwirken könnte.39
Barkley berichtet in einem Vortrag von Vorteilen einer Kombination von Stimulanzien und Guanfacin (welches bei komorbiden Tics hilfreich sei), um der durch Stimulanzien verursachte Dämpfung des limbischen Systems und der damit einhergehenden verringerten Emotionswahrnehmung zu begegnen.92
Für Ticstörungen ohne ADHS scheinen Antipsychotika eine höhere Effektstärke aufzuweisen.88
Atomoxetin zeigte positive Effekte auf zwanghafte Verhaltensweisen.93
Ein Bericht über 2 Kinder mit Zwang und AD(H)D (9 und 10 Jahre) deutete eine positive Wirkung einer Kombination aus Verhaltenstherapie, Sertralin und Guanfacin an.94
Positive Erfahrungen bei komorbider Zwangsstörung wurden berichtet mit Sertralin 50 bis 100 mg / Tag.47
3.4.14. Schizophrenie und Psychose komorbid zu ADHS¶
Eine Einnahme von Stimulanzien oder Atomoxetin verringerte das Risiko einer psychose-bedingten Krankenhauseinweisung in den 12 Monaten nach Einführung dieser Medikamente um 2/3 (HR = 0,36), wenn diese in Kombination mit Antipsychotika eingenommen wurden.95
Eine schwedische Kohortenstudie fand bei Jugendlichen ohne Psychose in der Vorgeschichte (Altersschnitt 17 Jahre) in den 12 Wochen nach MPH-Behandlungs-Beginn eine sehr geringe Zunahme des Psychoserisikos um 4 % im Vergleich zu den 12 Wochen vor Behandlungsbeginn.96
Ein Risikofaktor für eine durch Stimulanzien ausgelöste Psychose sind dagegen:37
Schizophrenie
bipolare Störungen
andere psychiatrische Erkrankungen mit psychotischen Merkmalen in der Kindheit
Durch Stimulantien ausgelöste psychotische Symptome verschwinden nach Absetzen des Stimulans bei 92 % der Patienten ohne Erforderlichkeit einer antipsychotischen Behandlung.97
Bei komorbiden psychotischen Symptomen soll erfahrungsgemäß hilfreich sein:
Quetiapin, Amisulprid, auch unterhalb der üblichen Dosierung61
3.4.15. Substanzmissbrauch / Sucht komorbid zu ADHS¶
Dass Stimulanzien bei ADHS das Suchtrisiko nicht erhöhen,98 sondern während der Einnahme deutlich verringern, ist laut dem aktualisierten europäischen Konsensus zur Diagnose und Behandlung von ADHS bei Erwachsenen von 201850 und anderen Quellen (Rückgang um rund 35 % in der mit Stimulanzien medikamentierten ggüber der unmedikamentierten Zeit99 Ein Case-Report berichtet beispielhaft die Wirkung von Lisdexamfetamin bei einem ehemals Süchtigen.100
Ein früherer Substanzmissbrauch ist daher normalerweise keine Kontraindikation für Stimulanzien.101
Bei akutem komorbidem Amphetamin-Substanzmissbrauch ist Atomoxetin aufgrund der geringeren Missbrauchsgefahr vorteilhaft.41
Lisdexamfetamin (Elvanse) bewirkt auch bei verordnungswidriger intranasler (schnupfen)102 oder intravenöser (spritzen)103 Einnahme gleichartige D-Amp-Spiegel wie bei oraler Einnahme. Die Wirkung war ungefähr gleich, bei leicht erhöhten Nebenwirkungen. Es ergab sich keine Rauschwirkung. Dies zeigt, dass das Missbrauchsrisiko von Lisdexamfetamin sehr niedrig ist.
Eine Studie verglich das Missbrauchspotenzial von oralen Einzeldosen von Lisdexamfetamin (LDX) 50, 100 (entspricht 40 mg d-Amp) und 150 mg, 40 mg d-Amphetamin und 200 mg Diethylpropion bei 36 Personen mit früherem Stimulanzienmissbrauch. Bei der Messung der Missbrauchsanfälligkeit mittels der Drug Rating Questionnaire-Subject Liking Scale zeigte Lisdexamfetamin bei 50 mg und 100 mg keine signifikante Erhöhung im Vergleich zu Placebo (2,1), bei 150 mg jedoch eine signifikante Erhöhung (6,1). D-Amphetamin und Diethylpropion zeigten mit 4,0 bzw. 4,5 signifikant erhöhte Werte zeigten. Die Probanden bevorzugten 40 mg D-Amp gegenüber 100 mg LDX, während 150 mg LDX und 40 mg D-Amp gleichauf lagen.104
Bei akutem THC oder Alkohol-Substanzmissbrauch ohne akute Amphetamin-Sucht halten wir das Risiko, dass ein Betroffener versucht, verschriebene Stimulanzien als Droge zu missbrauchen, für sehr gering.
Eine Analyse der durch Elvanse adressierten Proteine zeigte Hinweise, dass Elvanse auch bei der Behandlung von Binge Eating positiv mitwirken könnte.39
In den USA ist Elvanse zur Behandlung von Binge Eating bei Erwachsenen zugelassen. Bei 50 bis 70 mg täglich über 11 Wochen verringerte es den Schweregrad und die Häufigkeit der Essanfälle.37
Lisdexamfetamin wurde bei Kindern und Jugendlichen mit BED zwar nicht systematisch untersucht, eine retrospektive Übersichtsarbeit (N = 25; 12-19 Jahre) deutet jedoch auf einen gewissen Nutzen bei selbstberichteten Essanfallssymptomen hin.30 In den Leitlinien für die Behandlung von Essstörungen finden sich derzeit keine spezifischen Empfehlungen für den Einsatz von Lisdexamfetamin bei Kindern und Jugendlichen mit BED, da es an belastbaren Daten fehlt. Ausgehend von der klinischen Praxis kann Lisdexamfetamin bei Jugendlichen mit mittelschwerer bis schwerer BED und gleichzeitiger ADHS ohne klinisch signifikante kardiale Vorgeschichte in Verbindung mit einer anderen unterstützenden ED-Behandlung (z. B. kognitive Verhaltenstherapie) in Betracht gezogen werden.3,31
Zwar wurde eine Verringerung der gleichzeitig auftretenden Essanfälle und ADHS-Symptome durch Stimulanzien beschrieben, es bestehen jedoch Sicherheitsbedenken aufgrund fehlender Daten zum Einsatz bei Kindern und Jugendlichen mit Bulimie.37
Bei Kindern und Jugendlichen mit Bulimie wurde in Bezug auf Stimulanzien berichtet:
kardiovaskuläre Komplikationen im Zusammenhang mit Dehydrierung und Elektrolyt-Ungleichgewichten als Folge von Purging
selbst herbeigeführtes Erbrechen und Missbrauch von Abführmitteln
orthostasebedingte Tachykardie und erhöhter Blutdruck bei der Einnahme von Stimulanzien
Eine Behandlung mit Stimulanzien gegen ADHS-Symptome bei komorbider Bulimie ist denkbar, wenn:37
Bei Kindern und Jugendlichen mit Anorexie nervosa sollten Stimulanzien vermieden werden. Es bestehen verschiedene Risiken:105
zusätzliche Appetitunterdrückung
zusätzlicher Gewichtsverlust
Verschlimmerung des restriktiven Essverhaltens
Erhöhung kardiovaskulärer Risiken einschließlich Kardiomyopathie (z. B. Hypertrophie) bei stark unterernährten Kindern
Bei abgeklungener Anorexie kann eine Behandlung von ADHS-Symptomen mit Stimulanzien unter erhöhter Beobachtung von Appetit, Gewicht und Essverhalten erwogen werden.37
Chronische Schmerzen sind eine bei ADHS überhäufige Komorbidität
Stimulanzien wie auch Atomoxetin106 können bei ADHS-Betroffenen auch die chronischen Schmerzen verringern.
Duloxetin lindert komorbide Enuresis (Bettnässen) und stimulanzieninduzierte Dysphorie bei ADHS. Ein Einzelfallbericht notierte eine Linderung einer komorbiden Enuresis (Einnässen), einer durch Stimulanzien verursachten Dysphorie und eine Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten bei einem Jugendlichen mit ADHS.107
Atomoxetin veranderthalbfachte die Anzahl der trockenen Nächte.108
ADHS-Betroffene leiden häufig an Schlafproblemen. Stimulanzien können Schlafprobleme verbessern (viele Betroffene berichten, dass sie seit der Einnahme von Stimulanzien einen deutlich verbesserten Schlaf haben). Bei manchen Betroffenen (wir schätzen ca. 5 bis 10 %) können geringe Dosen (14/ bis 1/3 einer Tageseinzeldosis) unretardiertes MPH auch das Einschlafen verbessern.
Stimulanzien können aber auch Schlafprobleme verursachen. Meist handelt es sich um Eindosierungsnebenwirkungen, die innerhalb der ersten Wochen wieder verschwinden. Manchmal handelt es sich um eine Folge einer zu späten Einnahme oder einer zu langen Wirkdauer der Medikamente aufgrund eines verlangsamten Abbaus. Zu letzterem siehe unter Wirkung und Wirkdauer von ADHS-Medikamenten
Eine schwedische Kohortenstudie fand, dass zwei Drittel der Jungen und die Hälfte der Mädchen, die Melatonin erhielten, auch ADHS-Medikamente erhielten109, was auf eine hohe Wirksamkeit von Melatonin bei ADHS-bezogenen Schlafproblemen hindeutet.
Mehr zu Melatonin als Medikament zur Behandlung von Schlafproblemen bei ADHS unter Melatonin bei ADHS
Eine Betroffene berichtete uns gute Erfahrungen mit einer Einnahme von Guanfacin ca. 5 Stunden vor dem Schlafengehen. Müdigkeit ist eine häufige Nebenwirkung von Guanfacin, Guanfacin ist ein Pegelmedikament und wirkt fast den ganzen Tag, sodass auch am nächsten Tag noch eine positive Wirkung auf die ADHS-Symptome vorliegen sollte.
Amitryptilin in einer Dosierung von etwa 1 mg/kg/Tag bei vorsichtiger Anwendung zeigte Verbesserung von Schlaf, Angst, Impulsivität und ADHS, repetitivem Verhalten und Enuresis.81
Wie bei allen serotonergen Antidepressiva sind Absetznebenwirkungen zu beachten und ein Ausschleichen zu empfehlen.
Eine Case-Study berichtet eine positive Wirkung von Buspiron auf einen durch Atomoxetin verursachten Bruxismus.110 ADHS-Medikamente können einen Bruxismus verstärken.
In einer Untersuchung verbesserte Atomoxetin bei CDS / SCT 7 von 9 Symptomen des Kiddie-Sluggish Cognitive Tempo Interview (K-SCT) signifikant. Die Symptomverbesserung bei SCT war völlig unabhängig von den ADHS-Symptomen.111
SCT-Betroffene sind zudem besonders häufig MPH-Nonresponder. Die Subtypen ADHS-HI und ADHS-I unterscheiden sich dagegen in der MPH-Respondingrate nicht.112
Als eines der wenigen nicht Histamin erhöhenden ADHS-Medikamente wird genannt:
Viloxazin
Viloxazin scheint an den Histaminrezeptoren H1 und H2 eine schwache kompetitive Hemmung auszuüben (< 25 %).113
Die meisten gängigen ADHS-Medikamente scheinen dagegen Histamin zu erhöhen. Dabei erhöhen einerseits die Wirkstoffe selbst Histamin. Zusätzlich können Beistoffe histaminerhöhend wirken:
Winkler berichtet, dass in Bezug auf die Beistoffe unter den ATX-Präparaten Agakalin bei Histaminintoleranz weniger nachteilig sein soll als Strattera116
die Histamin-Erhöhung scheint nicht durch eine Diaminoxidase-Hemmung zu erfolgen
MPH induzierte Diaminoxidase, was den Histaminabbau erhöht117
Winkler berichtet, dass in Bezug auf die Beistoffe unter den MPH-Präparaten Medikinet unretardiert und Kinecteen bei Histaminintoleranz weniger nachteilig sein sollen als Ritalin unretardiert, Medikinet retard, Medikinet adult, Ritalin LA, Ritalin adult und Concerta.116
die Histamin-Erhöhung scheint nicht durch eine Diaminoxidase-Hemmung zu erfolgen
Lisdexamfetamin bewirkte in Caco-2-Zellen eine starke Hochregulierung der DAO-mRNA-Spiegel, was den Histaminabbau erhöht117
Winkler berichtet, dass in Bezug auf die Beistoffe unter den AMP-Präparaten Attentin bei Histaminintoleranz weniger nachteilig sein soll als Elvanse116
Eine ADHS-Betroffene mit Histaminintoleranz berichtete, dass sie AMP und retardiertes MPH gar nicht vertrug, unretardiertes MPH in geringen Dosen jedoch tolerieren konnte.
Eine andere ADHS-Betroffene berichtete, dass sie ihre durch ADHS-Medikamente verursachte Histaminintoleranzreaktionen mit einer morgendlichen Einnahme von Cetirizin gut in den Griff bekommen habe.
Beistoffe in Medikamenten können Gluten enthalten.
Winkler berichtet, dass in Bezug auf die Beistoffe Medikinet unretardiert, Medikinet retard, Medikinet adult, Ritalin LA, Ritalin adult, Concerta, Kinecteen, Elvanse, Attentin, Strattera und Agakalin unbedenklich seien, während Ritalin unretardiert bei einer Glutenintoleranz problematisch sei.116
Beistoffe in Medikamenten können Laktose enthalten.
Winkler berichtet, dass in Bezug auf die Beistoffe Medikinet retard, Medikinet adult, Ritalin LA, Ritalin adult, Elvanse, Attentin, Strattera und Agakalin unbedenklich seien, während Ritalin unretardiert, Medikinet unretardiert, Concerta und Kinecteen bei einer Laktoseintoleranz problematisch seien.116
Beistoffe in Medikamenten können Fructose enthalten.
Winkler berichtet, dass in Bezug auf die Beistoffe Ritalin unretardiert, Medikinet unretardiert, Elvanse, Strattera und Agakalin unbedenklich seien, während Medikinet retard, Medikinet adult, Ritalin LA, Ritalin adult, Concerta, Kinecteen und Attentin bei einer Fructoseintoleranz problematisch seien.116
Beistoffe in Medikamenten können Sorbit enthalten.
Winkler berichtet, dass in Bezug auf die Beistoffe Ritalin unretardiert, Medikinet unretardiert, Medikinet retard, Medikinet adult, Ritalin LA, Ritalin adult, Concerta, Kinecteen, Elvanse, Strattera und Agakalin unbedenklich seien, während Attentin bei einer Sorbitintoleranz problematisch sei.116
Downsyndrom geht mit einer deutlich erhöhten ADHS-Prävalenz einher.
Eine Studie an n = 21 Down-Betroffenen mit ADHS berichtete bei Guanfacin eine Responderquote von 48 %. 43 % berichteten Nebenwirkungen, meist Tagesmüdigkeit (33 %) und Verstopfung (10 %).121
Bei emotionaler Instabilität ist Atomoxetin besonders geeignet.101 Dies deckt sich mit unserem Eindruck, sofern Stimulanzien alleine nicht ausreichend wirksam sind. Dies betrifft auch eine Kombinationsmedikation von Atomoxetin mit Stimulanzien (jeweils entsprechend niedriger dosiert).
Guanfacin kann hier ebenfalls hilfreich wirken.
Eine Behandlung mit α-2-Agonisten (Clonidin, Guanfacin) kann bei Bluthochdruck angezeigt sein.
Clonidin-IR wirkt dabei noch stärker hypotensiv (Blutdruck senkend) und bradykard (Puls senkend) als Clonidin-XR und Guanfacin-XR.122
Guanfacin-XR verlängerte die QTc.122
Methylphenidat scheint bei Epilepsie die beste Option zur Behandlung von ADHS zu sein und ein geringes Risiko einer Verschlechterung von Krampfanfälllen zu haben.123124 Neben MPH ist auch eine Gabe von AMP oder Atomoxetin mit geringem Risiko möglich.125
Die Krampfneigung sollte gut behandelt sein, bevor eine Stimulanziengabe erfolgt.37
Epilepsie-Medikamente selbst können die Symptome von ADHS verschlechtern oder verbessern.
Eine Verschlechterung der ADHS-Symptome wurde für folgende Epilepsie-Medikamente berichtet:37
Valproat (hohe Evidenz einer Verschlechterung der Aufmerksamkeit)126127
Phenobarbital
Phenytoin
Topiramat
Zonisamid
Perampanel
Ethosuximid
Eine Verbesserung der ADHS-Symptome wurde für folgende Epilepsie-Medikamente berichtet:37
Lacosamid
Carbamazepin
Lamotrigin
Ob ADHS-Symptome verbessert oder verschlechtert werden, ist offen für:37
4. Unterschiedliche Wirkungsweisen von ADHS-Medikamenten¶
4.1. Bindungsaffinität von MPH, AMP, ATX an DAT / NET / SERT¶
Die Wirkstoffe Methylphenidat (MPH), d-Amphetamin (d-AMP), l-Amphetamin (l-AMP) und Atomoxetin (ATX) binden mit unterschiedlicher Affinität an Dopamintransporter (DAT), Noradrenalintransporter (NET) und Serotonintransporter (SERT). Die Bindung bewirkt eine Hemmung der Aktivität der jeweiligen Transporter.128
Bindungsaffinität: stärker bei kleinerer Zahl (KD = Ki)
DAT
NET
SERT
MPH
34 - 200
339
> 10.000
d-AMP (Elvanse, Attentin)
34 - 41
23,3 - 38,9
3.830 - 11.000
l-AMP
138
30,1
57.000
ATX
1451 - 1600
2,6 - 5
48 - 77
4.2. Wirkung von MPH, AMP, ATX auf Dopamin / Noradrenalin je Gehirnregion¶
Die Wirkstoffe Methylphenidat (MPH), d-Amphetamin (AMP) und Atomoxetin (ATX) verändern extrazelluläres Dopamin (DA) und Noradrenalin (NE) in verschiedenen Gehirnregionen unterschiedlich stark. Tabelle basierend auf Madras,128 modifiziert.
PFC
Striatum
Nucleus accumbens
Cortex okzipital
Hypothalamus lateral
Hippocampus dorsal
Cerebellum
MPH
DA + NE (+)
DA + NE +/- 0
DA + NE +/- 0
AMP
DA + NE +
DA + NE +/- 0
DA + NE +/- 0
ATX
DA + NE +
DA +/- 0 NE +/- 0
DA +/- 0 NE +/- 0
DA +/- 0 NE + (Ratte)
DA +/- 0 NE + (Ratte)
DA +/- 0 NE + (Ratte)
DA +/- 0 NE + (Ratte)
Hinweis: der NET bindet Dopamin im PFC etwas besser als Noradrenalin, der DAT bindet Dopamin sehr viel besser als Noradrenalin.
Gleichwohl erhöht Atomoxetin Dopamin nur im PFC und nicht überall, wo es an den NET bindet, sodass hier eine spezieller Wirkmechanismus vorzuliegen scheint.
Lisdexamphetamin (zeitverzögerte Freisetzung von D-Amp)
Elvanse
Elvanse adult (Homogenisierung mit Elvanse in 2024)
D-Amphetamin unretardiert
Attentin
nur off label
Atomoxetin
Strattera, Agakalin
Strattera, Agakalin
Guanfacin
Intuniv
nur off label
6.2. Zulassungsstatus ADHS-Medikamente in Frankreich¶
In Frankreich ist Methylphenidat für Kinder zugelassen und darf an Erwachsene verschrieben werden, wenn diese bereits als Kind Methylphenidat erhielten. In Anbetracht der Erkenntnis zwischenzeitlich jahrzehntelangen Erkenntnis, dass ADHS bei rund 2/3 der Betroffenen im Erwachsenenalter fortbesteht, ist dies äußerst verwunderlich und für diejenigen Betroffenen, die das Pech hatten, als Kind nicht diagnostiziert und behandelt zu werden, sehr bedauerlich.
Eine Erstverschreibung an Erwachsene scheint im Rahmen eines off-label-use möglich zu sein.130
Insgesamt scheint die Diagnose und Behandlung von ADHS in Frankreich auf einem um Jahrzehnte veralteten Stand.
6.3. Zulassungsstatus ADHS-Medikamente in den USA¶
In den USA sind Stand Januar 2023 folgende ADHS-Medikamente zugelassen:131
Wirkstoff
Zulassung
Dexmepthylhenidat unretardiert
Focalin®
Dexmepthylhenidat retardiert
Focalin® XR
Methylphenidat unretardiert
Methylin®, Ritalin®, Metadate CD®
Methylphenidat Halbtagesretard
Metadate® ER, Methylin® ER, QuilliChew ER™, Quillivant XR®, Ritalin LA®
6.3.3. Noradrenalinwiederaufnahmehemmer für ADHS, Zulassung in den USA¶
Strattera®
Atomoxetin (Hydrochlorid)
Kapsel
24 Stunden
10 mg, 18 mg, 25 mg, 40 mg, 60 mg, 80 mg, 100 mg
Qelbree™
Viloxazine
verlängerte Freisetzung
Kapsel
24 Stunden
100 mg, 150 mg, 200 mg
6.3.4. Alpharezeptoragonisten für ADHS, Zulassung in den USA¶
Kapvay®
Clonidin (Hydrochlorid)
Verlängerte Freisetzung
Tablette
12 bis 24 Stunden
0,1 mg, 0,2 mg
Intuniv®
Guanfacin (Hydrochlorid)
Verlängerte Freisetzung
Tablette
12 bis 24 Stunden
1 mg, 2 mg, 3 mg, 4 mg
7. Einschränkungen der Behandlungs- und Medikamentenwahl in Deutschland¶
Die Wahl der Behandlung und des Medikaments ist leider nicht alleine von der Eignung zur optimalen Behandlung von Betroffenen abhängig.
Da die Grundsätze der Marktwirtschaft zur Ermittlung fairer Preise nur in Bereichen funktionieren, in denen die Marktteilnehmer eine freie Wahl haben, und gesundheitliche Nöte etwas so essentielles sind, das die freie Wahl erheblich beeinträchtigt, haben Pharmaunternehmen Gewinnmargen erreicht, die weit oberhalb dessen liegen, was Großunternehmen ansonsten erreichen können. Eine Umsatzrendite von über 20 % erreichen ansonsten allenfalls noch IT-Unternehmen, die ihren Produkte in monopolartige Strukturen eingebunden haben (Apple & Co.). Verarbeitendes Gewerbe hat typischerweise eine Umsatzrendite von ca. 6 %.
Deutschland hat mit die höchsten Gesundheitsausgaben pro Kopf weltweit.
Wie immer, wenn die Marktmechanismen versagen, sind gesetzgeberische Eingriffe notwendig, um unfaire Zustände zu vermeiden.
Im deutschen Gesundheitssystem existieren daher verschiedene Regelungen, die Ärzte in der freien Wahl der Verschreibung von Medikamenten beeinträchtigen.
Dies betrifft auch die Verschreibung von Medikamenten für ADHS.
Ärzte können für ärztliche Leistungen oder für Verordnungen in Regress genommen werden.
Zwar gab es in 2018 weniger als 100 Regressverfahren132, doch tritt daneben das Instrument der Einzelfallprüfung hinzu, das deutlich häufiger vorkommt.
Unabhängig von der Häufigkeit sind diese Instrumente für Ärzte eine erhebliche nervliche Belastung und werden aufgrund ihres Strafcharakters auch als Bedrohung wahrgenommen. Es ist für Ärzte alles andere als angenehm, bei jedem Schreiben einer Krankenkasse oder der KV die Sorge zu haben, einem Regress oder Einzelfallprüfung ausgesetzt zu sein, die die wirtschaftliche Existenz der eigenen Praxis empfindlich treffen oder gar vernichten kann. Wenn ein Arzt beispielsweise einmal aufgrund einer Codierung eines Falles als F98.8 (ICD 10: Sonstige näher bezeichnete Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend) für eine Verschreibung von Elvanse adult über 6 Monate auf rund 480 € Regress in Anspruch genommen wird, ist nachvollziehbar, dass dies zu einer großen Zurückhaltung zu Verschreibungen führt, die das deutsche Zulassungssystem nicht vorsieht - egal wie medizinisch sinnvoll die Verordnung aus wissenschaftlicher Sicht sein mag.
Diese Bedrohung kann dazu führen, dass die Sorge vor einem solchen Regress oder der Einzelfallprüfung einen Arzt jeden Tag bei jedem Patienten beschäftigt.
Die nachfolgenden Beschränkungen betreffen gesetzliche Versicherte.
Die gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) schließt den Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) als Vertreter der Ärzte und Apotheker Vereinbarungen darüber, welcher Einsatz von Arzneimitteln zulässig und wirtschaftlich ist.
Bei Verstößen gegen diese Vereinbarungen kann die KGV gegenüber einem Arzt oder Apotheker die Kosten zurückgefordert werden. Ein solcher Arzneimittelregress ist ein Verwaltungsakt.
Der Prüfungsausschuss setzt in der Richtgrößenprüfung den Betrag fest, den der Arzt zu erstatten hat.
In der Folge wird die Gesamtvergütung der Kassenärztlichen Vereinigung um den Erstattungsbetrag des Arztes verringert.
Der Prüfungsausschuss wirkt dabei auf eine Vergleichsvereinbarung mit dem Vertragsarzt hin, § 106 Abs. 5 a SGB V. Eine solche Einigung kann den Erstattungsbetrag um bis zu einem Fünftel verringern, schließt jedoch zugleich den Rechtsweg aus:
Es gibt verschiedene Gründe, warum ein Arzneimittelregress verhängt werden kann. Dazu gehören unter anderem eine zu hohe Verordnung von teuren Arzneimitteln, die Verordnung von nicht zugelassenen Arzneimitteln oder die Verordnung von Arzneimitteln, die nicht notwendig sind.
Ärzte können einem Arzneimittelregress ausgesetzt sein, wenn gegenüber gesetzliche Versicherten:101
Medikamente verschrieben werden, die nicht zugelassen sind
zum Zulassungsstatus siehe oben
der Zulassungsstatus hängt von der gestellten Diagnose ab
die Diagnose F90.0G (kodiert nach ICD-10) für ADHS im Erwachsenenalter eröffnet einen weiteren und anderen Medikamentenspielraum als die im Kinder-Jugendbereich häufig noch verwendete ICD-10 F98.8G bei ADHS-I
Medikamente verschrieben werden, die nicht notwendig sind
das Wirtschaftlichkeitsverbot verletzt wird
Wirtschaftlichkeitsgebot = Grundprinzip der GKV gem. § 12 SGB V
Die Therapie muss notwendig, zweckmäßig, ausreichend und wirtschaftlich sein.
Preisgünstigere Therapiealternativen, die nach AMNOG gleichwertig bewertet sind, müssen zuerst verschrieben werden.
Teurere gleichwertig bewertete Alternativen dürfen nur verwendet werden, wenn die günstigeren eine fehlende oder unzureichende Wirkung oder unangemessene Nebenwirkungen aufweisen
Unerwünschte Nebenwirkung können als ICD-10 Y57.9G dokumentiert werden
Überschreitung der rechtlichen Dosierungshöchstmengen ist unwirtschaftlich, wenn sie im Einzelfall weder:133
gemäß § 2 Abs. 2 Betäubungsmittelverschreibungsverordnung (BtMVV) gerechtfertigt noch
aufgrund einer Erfüllung der Voraussetzungen eines „Off Label-Use“ ausnahmsweise zulässig ist
eine zu hohe Verordnung von teuren Arzneimitteln
eine zu hohe Verordnung von nichtmedikamentöser Behandlung, z.B. Ergotherapie
Konkrete Anwendung auf Stimulanzien bei gesetzlich Versicherten:101
Prüfung: zeigt die Verordnungshistorie unzureichende oder fehlende Wirksamkeit oder Nebenwirkungen von MPH?
Indikation (gesicherte Diagnose), Dauer und Menge prüfen und dokumentieren
Aut idem, Generika
spätestens seit 2023 werden den Ärzten Verordnungen grundsätzlich nur noch mit dem günstigsten Satz nach den Rabattverträgen der GKV angerechnet und bei einer Aut-idem-Substitution in Apotheken nicht mehr mit einem höheren Apothekenabgabepreis belastet.134
Zahlreiche Kassenärztliche Vereinigungen haben Verordnungsmindestquoten für Stimulanzien festgesetzt, die als Rahmenvorgaben zwischen dem GKV-Spitzenverband und der KBV nach § 84 Abs. 6 SGB V – Arzneimittel – vereinbart wurden.101
In diesen wird ein Anteil von MPH-haltigen Arzneimitteln an der Gesamtgruppe der Arzneimittel mit den Wirkstoffen MPH und Atomoxetin vereinbart.
Beispiele:
Saarland 2022: MPH musste mindestens 95,2 % der Gesamtmenge der MPH+ATX-Verschreibungen umfassen
Rheinland-Pfalz: MPH musste mindestens 70,4 % der Gesamtmenge der MPH+ATX+Lisdexamfetamin-Verschreibungen umfassen
Bei ADHS-Praxisschwerpunktpraxen ist ein höherer Anteil an Lisdexamfetamin- und Atomoxetin-Verordnungen zu erwarten.101
Ein ADHS-Praxisschwerpunkt liegt sozialrechtlich vor, wenn eine Praxis mindestens 50 % über dem Fachgruppenschnitt der ICD-Frequenz von F90.0G liegt.
Diese ergeben sich aus den ICD-Häufigkeitsstatistiken der Kassenärztlichen Vereinigungen
Im Bereich des Erwachsenen-ADHS wird ein Praxisschwerpunkt jedoch nicht anerkannt, selbst wenn die genannten Kriterien erfüllt werden. Das wiederum führt dazu, dass Ärzte, die vor allem Erwachsene mit ADHS behandeln, den Verschreibungsvorgaben unterliegen, wie sie für eine nicht spezialisierter Praxis bestehen.
Die fehlende Möglichkeit einer ADHS-Schwerpunktpraxis im Erwachsenenbereich ist neben der BTM-Problematik dürfte das Hauptproblem sein, warum ADHS Patienten ab 18 Jahren keinen Weiterbehandler oder Erstbehandler finden. Im Ergebnis fördern die GKV damit Entstehung von Komorbiditäten (z.B. Angststörungen, Depressionen) und Todesfälle (Unfälle, Suizide) siehe hierzu unter Folgen von ADHS, anstatt deren Eintreten durch eine leitlinienkonforme ADHS Therapie zu vermeiden. Und dies, obwohl eine ADHS-Therapie viel günstiger wäre als die Behandlung der aus ADHS folgenden Komorbiditäten, die oft jahrelang erfolglos bleibt, weil das diese auslösende zugrundeliegende ADHS nicht behandelt wird.
Patienten haben bei entsprechendem Krankheitsbild einen gesetzlichen Anspruch auf notwendige Verordnungen durch den Arzt.135
Ein Arzt kann und muss notwendige Verordnungen unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebots ausstellen.
Die Versagung der Verschreibung notwendiger Arzneimittel unter Berufung auf die Überschreitung des Richtgrößenbudgets ist unzulässig.
Hierauf beruhende Überschreitungen des Richtgrößenbudgets begründen keinen Regressanspruch. Dem Arzt obliegt die Darlegung der Notwendigkeit der Verordnung gegenüber der KV.
In Deutschland dürfen nur Ärzte Medikamente verschreiben. Psychologen dürfen in Deutschland keine Medikamente verschreiben.
In anderen Ländern ist eine Verschreibung durch Psychologen zulässig. Die deutschen Psychologen lehnten eine Rechtsänderung ab, die ihnen die Erlaubnis zum Verschreibung von Medikamenten geben sollte, weil eine sachgerechte Beurteilung von Wirkstoffen, Reaktionen, Neben-, Wechsel- und Kreuzwirkungen, Metabolisierungsunterschieden und Einflüssen internistischer Komorbiditäten erhebliche Wissen benötigt, das kaum durch ein paar Kurse zu vermitteln wäre.
Grundsätzlich darf jeder Arzt alles verschreiben.
Für eine Erstattung durch gesetzliche Krankenkassen (GKV) muss ein Arzt eine Kassenzulassung besitzen.
Es bestehen jedoch unterschiedliche Budgets und demzufolge unterschiedliche Regressrisiken.
Hausärzte dürfen also alles verschreiben, müssen sich jedoch aus Budgetgründen oft sehr zurückhalten.
Laut der GBA Arzneimittelrichtlinie Stand 02/2019 dürfen Hausärzte Methylphenidat als Folgeverordnung verschreiben, wenn die Aufsicht durch einen Spezialisten für Verhaltensstörungen gewährleistet ist.61
Fachärzte haben meist größere Arzneimittelbudgets als Hausärzte.
Nervenärztliche und psychiatrische Fachärzte dürften die größten Möglichkeiten haben, ADHS-Medikamente zu verschreiben.
In der Praxis wurden ADHS-Medikamente an Erwachsene in 2008 zu 58 % vom Facharzt verschrieben; in 2018 waren dies 80 %. Bei Kindern erfolgte die Verschreibung von ADHS-Medikamenten in 2008 zu 41 % durch Fachärzte in 2018 zu 63 %. Damit zeigt sich deutlich eine Verlagerung der Verschreibung vom Allgemeinarzt zum Spezialisten. Von n = 77.504 einbezogenen ADHS-Patienten wurden 38 % mindestens einmal mit ADHS-Medikamenten behandelt.136
Damit ein Medikament auf Kosten der GKV verordnet werden, muss es zur Behandlung der festgestellten Diagnose zugelassen sein. Verschreibungen außerhalb der Zulassung stellen einen off-label Einsatz dar, dessen Kosten von der GKV nicht übernommen werden muss und rückwirkend bis zu 3 Jahre geprüft und im Zweifel dem Arzt in Rechnung gestellt werden kann (Einzelfallprüfung oder Regress).
Jeder Arzt hat die Möglichkeit, ein Privatrezept auszustellen, bei dem die Kosten für das Medikament durch den Patienten selbst getragen werden. Privat versicherte Patienten können diese bei ihrer privaten KV (PKV) einreichen und sich diese im Rahmen des jeweils bestehenden Versicherungsvertrages ersetzen lassen.
Nicht jeder Arzt verfügt über BtM-Rezepte.
BtM-Rezepte sind personalisiert und durchnummeriert, müssen bei der Bundesopiumstelle bestellt und sollen in einem Safe aufbewahrt werden. Gestohlene Rezepte können gesperrt werden.
Während die Rezeptbestellung sehr einfach ist, können die Rezepte aufgrund der erforderlichen Durchschläge137 nicht mit einem Laser- oder Tintenstrahldrucker ausgefertigt werden. Sie müssen entweder mit einem (teuren und Platz verschwendenden) Nadeldrucker oder von Hand ausgestellt werden.138 Dieser Aufwand (Handschrift oder teurer Extradrucker) ist ein Kostentreiber.
Hinzu tritt der Verwaltungsaufwand der geordneten Aufbewahrung der Durchschläge der BtM-Rezepte für 3 Jahre und die stets möglichen Überprüfung der Aufbewahrung durch die Gesundheitsbehörden.139