Ist ADHS heilbar?
BEITRAG AKTUELL IN BEARBEITUNG
Die Frage, ob ADHS heilbar ist, führt leicht aufs Glatteis. Sie wird gerne missverstanden und missbraucht.
Die pauschale - und so pauschal auch richtige - Antwort ist: ADHS ist sehr gut behandelbar, aber nicht heilbar.
Dies ist so allgemeingültig, dass man jede Werbeaussage, dieses oder jenes Mittel / Medikament / psychotherapeutische Konzept könne ADHS heilen, getrost ungeprüft entsorgen kann.
Schaut man indes etwas genauer hin, muss die Antwort differenzierter ausfallen. Auch danach wird die pauschale Antwort lauten: ADHS an sich ist nicht heilbar.
Es gibt allerdings Fallgruppen, bei denen dies anders sein kann.
1. ADHS ist sehr gut behandelbar
ADHS ist sehr gut behandelbar12 und könnte die am besten behandelbare psychiatrische Problemstellung überhaupt sein.34 Die Effektstärke von Stimulanzien auf ADHS-Symptome sind die höchsten, die je für psychiatrische Medikamente gefunden wurden.5
Während Amphetamine in Bezug auf ADHS im Erwachsenenalter eine Effektstärke von 0,8–1,5 (NNT = 1,6) aufweisen, zeigen internistische Medikamente für Bluthochdruck oder Antidepressiva eine NNT von 10.6
Ebenso ist die Responderquote von Stimulanzien bei ADHS bemerkenswert. Während bei einer Angststörungen nur jeder zweite auf die Behandlung mit dem Mittel erster Wahl anspricht7, sind dies bei ADHS zu 70 % (auf MPH) bis 80 % (auf Amphetaminmedikamente) der Fall.
Die heutigen medikamentösen und psychologischen Therapiemethoden von ADHS ermöglichen eine weitgehende bis völlige Behebung der Symptome. Eine Heilung würde indes darüber hinaus erfordern, dass die Symptome auch ohne laufende weitere Behandlung, und dabei nicht nur mittels Coping-Strategien, dauerhaft verschwunden blieben.
Eine langjährige Verhaltenstherapie kann eine vergleichbare Wirkung wie eine Medikation erreichen – aber eben erst nach Jahren. Allerdings kann eine falsch angewendete Psychotherapie ebenso erheblichen Schaden verursachen wie ungeeignete Medikamente.
Es gibt leider Therapeuten, denen nicht alle Symptome von ADHS bekannt sind. Manche Therapeuten kennen lediglich die diagnostischen DSM-Symptome von ADHS oder verstehen nicht, dass DSM wie ICD lediglich diejenigen Symptome nennen, die besonders gut von anderen Störungen abgrenzen, und dass daneben weitere originär durch ADHS verursachte Symptome bestehen können. Wir nennen diese Gesamtheit der Symptome die behandlungsrelevanten Symptome, um die Teilmenge der diagnostischen Symptome hiervon abzugrenzen.
Wenn ein Mangel an Kenntnis aller behandlungsrelavanten Symptome dazu führt, dass dem Betroffenen diese Symptome nicht als Folge des ADHS, sondern als persönliche Verantwortung zugeschrieben werden, kann der Betroffene mit mehr Gefühlen von Schuld und Unzulänglichkeit aus der Therapie herauskommen, als er hineinging. Wir kennen leider etliche derartiger Fälle, bei ambulanter wie bei stationärer Behandlung.
Darüber hinaus zeigten 25 % der ADHS-HI-Betroffenen (mit Hyperaktivität) nach einem Social Skills Training eine Verschlechterung der Symptomatik.8
Eine systematische Behandlung von ADHS bewirkt neben einer signifikanten Verbesserung der Lebensqualität für die Betroffenen zugleich, dass sich das Risiko der Ausbildung einer Alkohol-, Nikotin- oder Drogensucht gegenüber unbehandelten Betroffenen halbiert.9 Das Risiko der Ausbildung psychiatrischer Komorbiditäten (Depression, Angststörungen, Zwänge, etc.) verringert sich auf weniger als die Hälfte.9
Während unbehandelte Kinder mit ADHS massive Beeinträchtigungen der Exekutivfunktionen zeigen, fanden sich bei behandelten Kindern mit ADHS Exekutivfunktionen nahe derer Nichtbetroffener.10
2. Heilung von ADHS
Es gibt (zu viele) Bücher, die eine angebliche Heilbarkeit von ADHS zum Aufhänger machen und Leser in die Irre führen.
ADHS als Gesamtheit ist definitiv nicht heilbar. Werbeversprechen in dieser Richtung sind banale Scharlatanerie.
Schaut man jedoch genauer hin, lassen sich einzelne Gruppen innerhalb von ADHS feststellen, deren ADHS-Symptome heilbar sein können.
2.1. Was ist ADHS
ADHS ist die Abkürzung für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Dies ist zunächst einmal ein Name, keine Klassifikation.
Unserer Ansicht nach wäre ADHS mit dem Begriff Syndrom treffender bezeichnet denn als Störung.
Ein Syndrom ist eine Gruppe von Symptomen, die gemeinsam auftreten, die nicht zwingend auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen sein müssen.
Eine Störung ist ein einzelnes Symptom oder einzelner Zustand, der die Funktion eines Organs oder Systems beeinträchtigt.
ADHS hat unserer Ansicht nach viel zu viele verschiedene Ursachen, als dass sie unter einem gemeinsamen Störungsbegriff zusammengefasst werden sollten.
Die Fachliteratur betrachtet ADHS im engeren Sinne als neuronale Entwicklungsstörung. DSM 5 ordnet ADHS zusammen mit Schizophrenie und Autismus als neuronale Entwicklungsstörung ein.
Eine Einordnung in einer zweidimensionalen Struktur, wie das DSM sie vorgibt, ist indes keine Definition.
Wir meinen, dass der größte Teil der ADHS-Fälle auf eine neuronale Entwicklungsstörung zurückzuführen sein dürfte.
Jedoch liegt nicht allen ADHS-Fällen eine neuronale Entwicklungsstörung zugrunde.
Man könnte den Begriff ADHS nun willentlich so definieren, dass alle Fälle, bei denen die ADHS-Symptomkriterien nach DSM oder ICD erfüllt und diese außerdem auf eine neuronale Entwicklungsstörung zurückzuführen sind, ADHS genannt werden (dürfen) und alle anderen nicht.
Nach diesem Denkmodell könnte ADHS in primäres ADHS (als neuronale Entwicklungsstörung) und sekundäres ADHS (alle anderen Ursachen) unterschieden werden.
Wir kennen indes keine Leitlinie, die diese Unterscheidung so transparent vornimmt.
Sekundäre ADHS-Ursachen können neben vielen anderen z.B. Schädel-Hirn-Trauma, schlafbezogene Atmungsstörungen, Vitamin- oder Mineralstoffmangel oder Folgen einer Enzephalitis (auch im Erwachsenenalter) sein. Nun könnte man sagen, das sei kein ADHS, sondern es seien lediglich ADHS-ähnliche Symptome, die aus anderen Störungen resultieren, und eben so genannt werden müssen, also eben z.B. ADHS-ähnliche Symptome infolge eines Schädel-Hirn-Traumas, infolge von schlafbezogener Atmungsstörungen, infolge von Vitamin- oder Mineralstoffmangel oder infolge einer Erwachsenennzephalitis.
Das ist wissenschaftlich sicher richtig, doch führt es in der Praxis zu mehr Problemen, als es löst.
- Die Diagnostik von ADHS erfolgt symptombezogen, nicht ursachenbezogen.
- Es würde die Diagnostik verunsichern, wenn dabei bereits die Ursachen unterschieden werden sollten.
- Die Menge an verschiedenen Ursachen ist viel zu groß, als dass sie in einer Diagnostik vollständig abgeklärt werden könnten. Für einzelne, leicht feststellbare Gruppen mag dies möglich sein.
- Alle möglichen Ursachen abzuklären, dauert Jahre.
- Beweis: Keine bisher existierende Studie zur Feldprävalenz von ADHS unterscheidet zwischen primärem und sekundärem ADHS, obwohl die Probanden in solchen Studien idR von ADHS-Spezialisten untersucht werden
- Die Behandlung von ADHS mit Medikamenten oder Psychotherapie erfolgt symptombezogen und ist auf der Symptomebene hochwirksam.
- Es wäre inhuman und unverantwortlich, die Betroffenen all diese Jahre eine symptomatische Behandlung durch Medikamente oder Psychotherapie vorzuenthalten
- Es wäre ein ärztlicher Kunstfehler und eine Körperverletzung, da unbehandelte ADHS-Symptome (egal welcher Herkunft) Folgekomorbiditäten produzieren und damit psychischen und körperlichen Schaden verursachen und mit einer verkürzten Lebenserwartung einhergehen
- Wir kennen bei weitem nicht alle möglichen Ursachen für ein “sekundäres” ADHS. Sollen wir, je mehr wir kennen, die neu erkannten früheren ADHS-Teile alle von ADHS abspalten und umbekennen? Dann wäre der Satz mancher verschwörungsaffiner Wissenschaftsleugner antizipatorisch bewiesen: ADHS gibt es am Ende gar nicht. Denn ADHS gäbe es dann ja nur so lange, wie wir die Ursachen nicht kennen. Und wenn wir sie alle kennen, gibt es ADHS nicht mehr. Zumindest führt diese Denkweise in einen logischen Kurzschluss.
- Auch primäres ADHS (als neuronale Entwicklungsstörung) ist keine monokausale Störung, sondern ein Syndrom. Ursachen können hunderte verschiedener Gene sein, Chromosomenaberrationen und eine überraschend hohe Anzahl monogenetischer Defekte (siehe unter Entstehung).
- Der Krankheitsbegriff würde für Betroffene je nach Zeitpunkt auseinanderfallen. Bei der Diagnostik, während der man eine mögliche Ursache noch nicht gefunden hat, haben sie ADHS. Findet man später die Ursache, die bei diesem Betroffenen die Symptome ausgelöst haben, und kann sie beseitigen, hatte er kein ADHS? Diese Sichtweise scheint mir sehr behandlerorientiert. Da sich die Behdnaler aber mit den Symptomen und den Ursachen auskennen sollten, braucht es für diese keine leicht verständlichen Begriffe. Die Begriffsverständlichkeit sollte sich nach den Betroffenen richten - diese können sich nur anhand der Symptome orientieren.
- Die Grenzen zwischen sekundären ADHS-Ursachen und neuronaler Entwicklungsstörung sind nicht trennscharf. Das Gehirn entwickelt sich bis ca. Mitte 20. Alle sekundären (oder sagen wir: nicht genetischen) Einflüsse können in dieser weit auch noch die Gehirnentwicklung beeinträchtigen.
Unserer Auffassung nach ist ADHS ein Syndrom. Es ist unmöglich bis sinnlos, ein Syndrom in einen ursachenbezogenen Kontext einordnen zu wollen.
Wir halten es daher für ratsamer, ADHS als Bezeichnung für die Gesamtheit aus primärem und sekundärem ADHS zu verwenden. Dies vermeidet Verunsicherung bei Diagnostikern, Behandlern und Betroffenen.
Zugleich sollte im Rahmen der Behandlung sorgfältig auf mögliche Ursachen eines sekundären ADS geachtet und alle nach und nach ausgeschlossen werden.
Denn aus Behandlersicht kann sich mit dem sorgfältigen Abklopfen der verschiedenen Ursachenpfade zuweilen doch ein “sekundäres” ADHS finden, das bei adäquater Behandlung der Ursache asymptomatisch wird - oder, wenn man es so nennen möchte, geheilt werden kann.
2.2. ADHS - Symptombehandlung vs. Heilung
Einige Indizien deuten darauf hin, dass in manchen Fällen eine Heilung von ADHS (auch von primärem ADHS) in Teilbereichen möglich sein könnte. Erfolgreiche Psychotherapie kann Symptome deutlich verringern, bis hin dazu, dass die diagnostischen Kriterien nicht mehr erfüllt werden. Neurofeedback scheint in einigen Fällen die Symptome dauerhaft verringern oder im günstigsten Fall (wenn auch selten) sogar beseitigen zu können. Ein Training persistierender primitiver Reflexe kann diese aufösen.
Ebenso gibt es vorsichtige Hinweise, dass eine sehr frühzeitige Medikation mit Methylphenidat ebenso wie eine langfristige Medikation messbare Heilungswirkungen haben könnten.1112
Sekundäres ADHS kann erfolgreich behandelbar sein, wenn sich die Ursache, die die sekundären ADHS-Symptome auslöst, behandeln lässt.
Hier sind als besonders prominente Beispiele zu nennen
- Schlafbezogene Amtungsstörungen
- Asthma
- Allergien
- Nahrungsmittelunvertröglichkeiten
- Vitaminmangel
- Mineralstoffmangel
- etc.
2.3. ADHS Remission im Erwachsenenalter
Wenn ADHS völlig unheilbar ist, fragt sich, wieso ADHS bei 20 bis 50 % der betroffenen Kinder bis zum Erwachsenenalter jedenfalls so weit abnimmt, dass kein ADHS mehr diagnostiziert wird. Die Betroffenen (von sogenanntem subklinischem ADHS) haben zwar in der Regel mehr Probleme als Menschen, die nie ADHS hatten, ihre Symptome sind jedoch nicht mehr so schwer, dass sie die Diagnosekriterien erfüllen (was übrigens nicht bedeutet, dass sie keine Unterstützung mehr benötigen, sondern nur, dass diese nicht mehr als Kassenleistung abgerechnet werden kann).
Hierfür sind mehrere Erklärungen denkbar, allein oder gemeinsam:
- Mangelnde Kenntnis über die sich im Erwachsenenalter verändernden Symptome, sodass das sich anders manifestierende Erwachsenen-ADHS nicht mehr erkannt wird
- Copingstrategien werden wirkungsvoller entwickelt, sodass die Symptome besser überdeckt werden
- Änderung der Lebensumstände; insbesondere Wegfall der hauptsächlich durch extrinsische Motivation organisierten Schule und Ersatz durch Ausbildung oder Studium eines Gebietes, das selbst ausgewählt wurde (mehr intrinsische Motivation).
- tatsächliches Remittieren (Nachlassen) der Symptome, z.B. aufgrund einer Nachreifung betroffener Gehirnregionen
- echte Gesundung
Diese noch nicht abschließend beantwortete Fragestellung erlaubt es jedenfalls, ein kleines bisschen an Hoffnung zu bewahren.
Gesichert ist, dass lang anhaltende Psychotherapie und Neurofeedback heilende Beiträge entwickeln und die Symptomschwere erheblich verringern können und dass eine medikamentöse Behandlung in aller Regel ohne belastende Nebenwirkungen die Symptome weitgehend beseitigen und ein belastungsfreies Leben ermöglichen kann.
3. Recht auf Wahl der Behandlungsform
Manche Menschen lehnen eine Behandlung von ADHS mit Medikamenten grundsätzlich ab. Dies scheint eher eine Frage der grundsätzlichen Einstellung als eine Frage von Fakten zu sein. Eine Studie berichtet, dass vornehmlich folgende Faktoren bei den Eltern die Entscheidung beeinflussen, ob Kinder mit ADHS Medikamente erhalten:13
- das Maß, in dem ADHS als Stigma empfunden wird
- die grundsätzliche Einstellung zu Medikamenten bei ADHS
- das Wissen über ADHS.
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