ADHS-Diagnostik bei Mädchen und Frauen
- 1. Jungen häufiger diagnostiziert
- 2. Externalisierende Symptomatik leichter erkennbar und unangenehmer
- 3. Symptomatik bei Frauen wird eher unterschätzt
1. Jungen häufiger diagnostiziert
Jungen werden sehr viel häufiger mit ADHS diagnostiziert als Mädchen. Das Verhältnis wird zwischen 2:1 und 10:1 angegeben,1
Im Erwachsenenalter ist die Diagnosequote dagegen ausgeglichen.2 Da sich jedoch nur die Neudiagnostik im Erwachsenenalter angleicht, der Diagnostiküberhang von Männern in Kindheit und Jugend also fortbestehen, bleiben insgesamt mehr 2,3 Mal mehr Männer als Frauen mit ADHS diagnostiziert.
Offen ist, ob das starke Aufholen von Frauen bei der ADHS-Diagnostik gegenüber Männern im Erwachsenenalter zur dann ausgeglichenen Diagnosehäufigkeit2 alleine auf unerkanntem ADHS in der Kindheit und Jugend basiert, oder ob es auch Fälle von Late Onset ADHS gibt. Mehr dazu unter Late Onset ADHS: erstmaliges Auftreten im Erwachsenenalter
2. Externalisierende Symptomatik leichter erkennbar und unangenehmer
Jungen zeigen, unabhängig von ADHS, deutlich stärker externalisierende Störungsbilder (ODD, Conduct disorder), während Mädchen mehr Störungsbilder mit internalisierender Symptomatik zeigen (Depression, Angst). Auch innerhalb des ADHS-Spektrums zeigen Jungen häufiger Präsentationsformen (früher: Subtypen) mit externalisierender Symptomatik, also ADHS-H oder ADHS-C, während Mädchen häufiger ADHS-I zeigen als Jungen.3
Externalisierende Symptome (Hyperaktivität, Impulsivität, Aggressivität) sind für andere Personen belastender als internalisierende Symptome und werden als schwerwiegender wahrgenommen.4 Allerdings wurde von Eltern Hyperaktivität bei mit ADHS diagnostizierten Mädchen als geringer eingeschätzt als sie tatsächlich war und bei mit ADHS diagnostizierten Jungen höher eingeschätzt als sie tatsächlich war.1 Dies könnte so interpretiert werden, dass Hyperaktivität bei Jungen als unangenehmer empfunden wird als bei Mädchen.
Daher wird das Umfeld von Jungen mit ADHS häufiger eine Diagnostik des Kindes anstreben als das Umfeld von Mädchen mit ADHS, bzw. es bedarf bei Mädchen einer stärkeren Symptomatik, damit Eltern eine Diagnose anstreben.5
Motorische Hyperaktivität ist ein Symptom, das auch für Menschen erkennbar ist, die eine Person nicht genau kennen. Hyperaktivität ist auch aus der Entfernung beobachtbar. Um Unaufmerksamkeit festzustellen, bedarf es einer größeren Nähe. Damit ist der Kreis der Personen, die externalisierende Symptome wahrnehmen können, größer als der Kreis, der internalisierende Symptome wahrnehmen kann.
3. Symptomatik bei Frauen wird eher unterschätzt
Verwandte von Frauen mit ADHS haben ein höheres ADHS-Risiko als Verwandte von Männern mit ADHS.5
1.4. Tests für ADHS in Kindheit bewerten internalisierende Symptomatik schwächer
Im Erwachsenenalter muss ein Vorliegen einer ADHS-Symptomatik im Kindes-/Jugendalter festgestellt werden.
Dazu kann unter anderem der WURS (gratis, 6 - 10 Jahre) oder der WURS-K (kostenpflichtig, Teil des HASE, 8 - 10 Jahre) verwendet werden.
Der WURS-K zeigt mit 86 % eine um 10 % schlechtere diagnostische Genauigkeit für ADHS in der Kindheit als der WURS.6
Der WURS-K soll systematisch zu Diagnostikproblemen führen, da insbesondere Frauen und Mädchen, sowie Männer mit der überwiegend unaufmerksamen Präsentationsform ADHS-I trotz ansonsten deutlicher ADHS-Symptomatik die Punktwerte minimal unterschreiten.6
Der WR-SB Selbstbeurteilungs-Fragebogen soll ebenfalls die überwiegend unaufmerksame ADHS-I Präsentationsform nicht erkennen.6
Auch eine nur geringe Unterschreitung des erforderlichen Scores führt in der automatisierten Auswertung über das Hogrefe Testsystem zur Feststellung, dass die ADHS-Kriterien nicht erfüllt seien.
Dasselbe gilt für das weitverbreitete Wender-Reimherr-Interview.6
1.5. Frauen kompensieren ADHS besser mittels sozialer Traits
Frauen sind im Schnitt stärker sozial ausgerichtete Wesen als Männer. Mädchen ist die persönliche Interaktion mit anderen Menschen wichtiger als Jungen. Mädchen und Frauen fällt es im Schnitt leichter, die Sichtweise des Gegenübers einzunehmen und Erwartungen anderer zu antizipieren. 7 Mädchen und Frauen haben durchschnittlich eine stärkere Ausprägung pro-sozialer Skills.8
Dies korreliert mit der “tend and befriend” Stressreaktion, die bei Frauen deutlich häufiger vorkommt als bei Männern. Frauen suchen bei großem Stress mehr die Nähe der Gruppe und versichern sich der Zugehörigkeit als Frauen. Mehr hierzu unter Tend and befriend im Abschnitt Selbstwertprobleme im Beitrag Wahrnehmungssymptome im Kapitel Symptome von ADHS.
Dies bewirkt, dass Frauen in Bezug auf den sozialen Umgang mit anderen Menschen größere Ressourcen aufwenden, um den anderen nicht zu belasten. Dies führt zum Coping der eigenen ADHS-Symptome.
1.6. Hormone schützen Mädchen
Mädchen sind durch ihre geschlechtsspezifische Hormonausstattung im Kindesalter besser vor psychischen Störungen geschützt als Jungen.
Mehr hierzu unter Geschlechtsunterschiede bei ADHS im Kapitel neurologische Aspekte.
Mowlem F, Agnew-Blais J, Taylor E, Asherson P (2019): Do different factors influence whether girls versus boys meet ADHD diagnostic criteria? Sex differences among children with high ADHD symptoms. Psychiatry Res. 2019 Feb;272:765-773. doi: 10.1016/j.psychres.2018.12.128. PMID: 30832197; PMCID: PMC6401208. ↥ ↥
Bachmann CJ, Philipsen A, Hoffmann F (2017): ADHD in Germany: Trends in Diagnosis and Pharmacotherapy. Dtsch Arztebl Int. 2017 Mar 3;114(9):141-148. doi: 10.3238/arztebl.2017.0141. PMID: 28351466; PMCID: PMC5378979. ↥ ↥
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Ohan JL, Johnston C (2005): Gender appropriateness of symptom criteria for attention-deficit/hyperactivity disorder, oppositional-defiant disorder, and conduct disorder. Child Psychiatry Hum Dev. 2005 Summer;35(4):359-81. doi: 10.1007/s10578-005-2694-y. PMID: 15886870. ↥
Martin J, Walters RK, Demontis D, Mattheisen M, Lee SH, Robinson E, Brikell I, Ghirardi L, Larsson H, Lichtenstein P, Eriksson N; 23andMe Research Team; Psychiatric Genomics Consortium: ADHD Subgroup; iPSYCH–Broad ADHD Workgroup; Werge T, Mortensen PB, Pedersen MG, Mors O, Nordentoft M, Hougaard DM, Bybjerg-Grauholm J, Wray NR, Franke B, Faraone SV, O’Donovan MC, Thapar A, Børglum AD, Neale BM (2018): A Genetic Investigation of Sex Bias in the Prevalence of Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder. Biol Psychiatry. 2018 Jun 15;83(12):1044-1053. doi: 10.1016/j.biopsych.2017.11.026. PMID: 29325848; PMCID: PMC5992329. ↥ ↥
Semmler: ADHS-Testverfahren im Test. Letzter Aufruf 25.09.24. ↥ ↥ ↥ ↥
Stollhoff K (2022): Eine übersehene ADHS belastet Mädchen ihr Leben lang. Pädiatrie 34, 12–13 (2022). https://doi.org/10.1007/s15014-022-4769-7 ↥
Arnold V (2024): AD(H)S im Kindes- und Jugendalter, neue AKZENTE Nr. 128, 2/2024, 5-10 ↥